Das Mädchen aus den Bergen

»Was war, wird sein. Was stirbt, wird leben. Was fällt, wird sich erheben. Das, so sage ich euch, ist das Wesen der Dinge, wenn ihr auch nur einmal glaubt.«

– Die Heilige Sabbat, Episteln

 

Er stand auf einer der höchsten Plattformen der inneren Makropole und schaute auf Beatistadt, auf die steilen Hänge der Makropoltürme aus Keramit und weißen Quadersteinen, auf das Mosaik aus Ziegeldächern weiter unten, das von einem Gitter aus Alleen und Viadukten durchzogen war, auf das modernde Gestein der alten Bezirke, auf die fleckigen Metallwände der Fabriken und agroponischen Kuppeln, auf das Labyrinth aus Gassen und Elendsvierteln und die Irrgärten und Maulwurfsgänge der Unterschicht-Habs.

Keine sichere Stadt. Weder sicher noch zu sichern. Es gab keine Festungsmauern oder Befestigungsanlagen, nur die natürliche Einfriedung des felsigen Umlands rings um das Tal. Es gab ein Schildsystem, das von Pylonen um die Stadtgrenze herum erzeugt wurde. Diese konnten im Zusammenspiel mit ähnlichen Masten auf den Dächern der Makropoltürme ein kohärentes Energiefeld wie eine Markise über der Stadt errichten. Doch dieses System war mit der Maßgabe konstruiert worden, Staub- und Glasstürme abzuwehren, nicht Munition.

Und genau das stand bevor. Krieg, der sich so unausweichlich Herodor näherte wie zuvor die Pilgerscharen. Die Civitas Beati würde nicht überleben. Sie war nicht für den Krieg angelegt worden, und er wusste nicht, wo er mit der Verteidigung anfangen sollte. Er dachte an die Vervunmakropole – die große, solide Vervunmakropole – und daran, wie schwer es gewesen war, sie zu halten. Die Vervunmakropole war von Militärplanern angelegt worden, deren oberste Vorgabe die Erfordernisse der Verteidigung waren. Ihre Hauptspindel und Befestigungsmauern hatten eine solide Festung gebildet, in der die gesamte Bevölkerung der Makropole in Zeiten des Angriffs und der Belagerung Schutz finden konnte. Im Gegensatz dazu war Beatistadt einfach gewachsen, und billige Unterschicht-Habitate waren immer weiter und weiter entfernt von den bescheideneren und überbevölkerten Makropoltürmen aus dem Boden geschossen.

Gott-Imperator, aber dies würde verdammt blutig werden.

Gaunt wandte sich von dem getönten Beobachtungsfenster ab und machte sich noch ein paar Notizen auf einer Datentafel, die er seit seiner Ankunft in der Hand gehalten hatte. Er notierte jede noch so unbedeutende Idee, um die Stadt so gut wie möglich vor einem Angriff zu sichern. Stärkere Schildgeneratoren für den Anfang. Mobile Artilleriebatterien und ein paar richtige Panzer. Und natürlich Befestigungen. Diese verdammt breiten Alleen mussten gesperrt und das Wassersystem organisiert werden. Es mussten Vorräte für Nahrung, Energie und Munition angelegt werden. Dem letzten Bericht der Flotte zufolge stand die Munitoriumsflotte zwei Tage vor dem Herodor-System, und eine Streitmacht von drei Regimentern, darunter auch Panzer, waren von Khan unterwegs. Herodor brauchte außerdem die Deckung einer Raumflotte, und er hatte die Hilfe der Adeptus Mechanicus angefordert, obwohl er diesbezüglich noch keine Antwort erhalten hatte.

Er hörte, wie sich die Tür zu dem holzvertäfelten Deck öffnete, und nahm an, es sei Beltayn, der endlich mit einem Becher Kaffein und etwas zu essen zurückkäme. Doch er war es nicht.

»Nett von Ihnen, dass Sie sich entschlossen haben, mir Gesellschaft zu leisten«, sagte Gaunt.

Corbec grinste und nickte. Er aß eine mit Salzfleisch belegte Scheibe Brot und hielt einen Becher mit heißem Kaffein in der anderen Hand. Rawne, der hinter ihm eintrat, trug zwei weitere Becher und reichte Gaunt einen.

»Wir haben Beltayn auf dem Weg hierher abgefangen«, sagte Rawne.

»Er sollte auch etwas zu essen mitbringen«, sagte Gaunt. Corbec hörte sofort auf zu kauen und betrachtete schuldbewusst die Scheibe Brot in seiner Hand. »Tut mir Leid«, sagte er.

Gaunt schüttelte den Kopf und winkte ab. »Nehmen Sie Platz. Sie hatten einen anstrengenden Tag, habe ich gehört.«

»Wir konnten sie da draußen nicht einfach verrecken lassen. Es war ein ziemlich großer Angriff, der schlimmste, den sie bisher erlebt haben, hat man mir gesagt«, erläuterte Corbec. Sowohl an seiner als auch an Rawnes Uniform klebte Staub, und in Corbecs Gesicht waren noch rötliche Druckstellen zu sehen, wo die Atemmaske in die Haut geschnitten hatte.

»Panzer?«

»Drei Schleichpanzer. Kleine Fische, aber immerhin. Caff und Feygor haben sie mit Kettenschreddern sauber zerlegt. Bedeutsamer ist, dass wir den Feind eindeutig identifiziert haben.«

Er griff in seinen Brotbeutel und holte ein Eisenvisier heraus. In der Mitte der Stirn war ein Laserloch in die Maske gebrannt.

»Feth«, sagte Gaunt.

»Der Blutpakt ist hier. In großer Zahl.«

Gaunt zeigte auf das Eisenvisier, das Corbec hielt. »Es könnte auch nur …«

»Ich würde diese Arschlöcher überall erkennen«, sagte Rawne.

Gaunt nickte. »Das hiesige Militär scheint zu glauben, die Überfälle seien das Werk einiger Zellen ketzerischer Dissidenten. Seit vier Tagen greifen sie die Stadt jeden Tag an.« Er nahm Corbec die Maske aus der Hand. »Sie haben keine Ahnung, oder?«

»Es war an der Zeit, dass ihnen die Augen geöffnet werden«, sagte Corbec.

Gaunt legte die Maske beiseite. »Ich glaube, wir haben es mit einer Vorhut zu tun, die den Befehl hat, uns bis zum Eintreffen der Hauptstreitmacht zu beschäftigen.«

»Und Sie glauben, diese Hauptstreitmacht ist unterwegs?«

Rawnes Frage entlockte Gaunt ein finsteres Lachen. »Suchen Sie mal jemanden in diesem Sektor, der nicht weiß, was hier vorgeht! Wenn Sie der Feind wären …«

»Wenn?«, lächelte Rawne.

»Wenn Sie der Feind wären«, fuhr Gaunt fort, ohne auf die spöttische Bemerkung einzugehen, »würden Sie diese Welt nicht als Primärziel betrachten?«

Rawne sah Corbec an, der schlicht die Achseln zuckte. »Gibt es also irgendwo eine Spur des drohenden Unheils?«

Gaunt schüttelte wiederum den Kopf. »Die Flotte hat nichts. Es gibt zu viele Pilgerschiffe, die das Bild verwirren.«

»Vergessen wir mal, was sein könnte. Was ist mit der Operationsbasis derjenigen, die bereits hier sind?«, fragte Rawne.

»Die Raumüberwachung hat in einer Glaswüste gut tausend Kilometer westlich von hier etwas entdeckt, bei dem es sich um Landungsboote handeln könnte, aber die Messungen haben kein Lebenszeichen ergeben. Die aktiven Feinde hier auf Herodor sind sehr gut verborgen. Wahrscheinlich irgendwo in dem vulkanischen Hochland, das Trockenberge genannt wird, aber das ist reine Spekulation.«

»Ich sage, wir …«, begann Rawne.

»Wir haben nicht genug Leute, Rawne. Es würde Wochen dauern, sie zu finden, selbst mit unseren Fähigkeiten. Diese Welt ist groß und öde, und es gibt viele Ecken und Löcher, um sich zu verstecken.«

»Aber sie ist nicht wichtig«, sagte Rawne finster.

»Nein, Major«, stimmte Gaunt zu. »Sie ist überhaupt nicht wichtig.«

»Warum …«, setzte Rawne an, unterbrach sich aber, als er den Ausdruck in Gaunts Augen sah.

»Haben Sie … sie gesehen?«, fragte Rawne stattdessen.

»Noch nicht.«

»Sie sagten, die Pilgerschiffe würden das Bild verwirren«, sagte Corbec. »Es sind bereits reichlich Pilger hier. Hunderttausende. In der Umlaufbahn wimmelt es von ihnen.«

»Es treffen ständig mehr Schiffe ein«, sagte Gaunt. »Manche kommen sogar von außerhalb des Subsektors.«

»Eigentlich müssten wir den Planeten abriegeln«, wagte Corbec sich vor. »Ich meine, wir müssen den Laden dichtmachen. Wir können nicht zulassen, dass einfach jeder hier landet, auch wenn es nur harmlose Pilger sind. Wissen Sie noch, auf Hagia, wie sie da mit den Pilgern gekommen sind?«

»Ich weiß es noch, Colm. Ich weiß einfach nicht, wie wir das verhindern können. Einige von diesen Schiffen sind alt, kaum noch raumtüchtig und gefährlich unterversorgt. Wenn wir den Planeten abriegeln und sie zurückschicken, verurteilen wir damit Bürger des Imperiums zum Tode. Tak-Log hat mir verraten, dass neunzig Prozent aller Pilgerschiffe die Rückreise nicht überstehen würden. In den meisten Fällen haben sie ihre gesamten Ersparnisse in die einfache Reise hierher gesteckt. In die Reise zur Erlösung.«

Corbec stellte seinen leeren Becher ab und fegte sich ein paar Krümel von der Jacke. »Diese armen, erbärmlichen Schweine«, sagte er bitter.

Gaunt zuckte die Achseln. »Der ganze Sternhaufen und noch mehr weiß, was hier auf Herodor vorgeht, also kann man davon ausgehen, dass es der Feind auch weiß. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, warum die Information der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.«

»Weil sie darauf bestanden hat«, sagte eine Stimme hinter ihm. Rawne hatte die Tür offen gelassen, und niemand hatte den Neuankömmling eintreten hören. Sie sprangen auf und salutierten.

»Stehen Sie bequem«, sagte Marschall Lugo.

»Man hat mir gesagt, ich solle mich um 17:00 Uhr bei Ihnen melden«, sagte Gaunt.

»Ich weiß. Ich bin früher als erwartet fertig geworden und dachte, ich beschleunige den Ablauf ein wenig. Willkommen auf Herodor, Gaunt.«

»Vielen Dank, Marschall.«

Lugo warf einen Blick auf Corbec und Rawne. »Vielleicht einen Moment unter vier Augen …?«, schlug er vor.

»Selbstverständlich.« Gaunt wandte sich an die anderen beiden und winkte sie hinaus. »Wegtreten, Sie beide. Weisen Sie das Regiment ein.«

Corbec und Rawne verließen hastig den Raum und schlossen die Tür hinter sich.

»Feth«, flüsterte Corbec, kaum dass sie draußen waren. »Ich hatte gehofft, wir würden das Schwein nie Wiedersehen.«

»Nicht so sehr wie Gaunt, möchte ich wetten«, sagte Rawne.

 

»Ich schlage vor, von Mann zu Mann«, sagte Lugo, »dass wir alle vergangenen Unannehmlichkeiten hinter uns lassen.« Lugo war ein hochgewachsenes knochiges Individuum mit dünner, fettiger Haut, die wie Pergament an den Kurven seines rasierten Schädels klebte. Er trug eine weiße Galauniform, deren Brust mit Orden behangen war.

»Das könnte von Vorteil sein, Marschall«, sagte Gaunt.

»Dinge sind gesagt worden auf Hagia. Taten wurden vollbracht. Mit Ihrer kleinen Exkursion zur Schreinfeste haben Sie sich und Ihre Fähigkeiten in meinen Augen rehabilitiert. Also … reden wir nicht mehr darüber, lautet mein Vorschlag.«

Gaunt nickte. Er fand es schwierig zu antworten. Marschall Lugo war seiner Ansicht nach einer der unfähigsten und selbstherrlichsten Offiziere im Führungsstab des Kreuzzugs, eher ein Politiker als ein militärischer Führer. Im Jahre 770 hatte er sich den Oberbefehl über die Befreiung der Schreinwelt Hagia in dem Glauben gesichert, sie sei eine einfache Aufgabe, mit der er viel Ruhm erringen und seine politischen Ambitionen untermauern könne. Als das Befreiungsunternehmen eine katastrophale Wendung nahm, hatte er Gaunt die Schuld gegeben und versucht, den Befehlshaber des Ersten Tanith zum Sündenbock zu machen. Dadurch hätte er beinahe die ganze Schreinwelt an das Chaos verloren – eine fatale Situation, die nur durch die Tanither im Zuge der sonderbaren Geschehnisse in der Schreinfeste selbst bereinigt worden war. Nach Hagia und wieder mit weißer Weste war Gaunt mit seinen Truppen nach Phantine versetzt worden. Lugo war zwar nicht offiziell degradiert worden, aber als Statthalter des Imperiums auf Hagia geblieben, was seinen Ambitionen einen Riegel vorgeschoben hatte.

Traurigerweise hatte das auch bedeutet, dass er sich genau am richtigen Ort befunden hatte, um von den außergewöhnlichen Ereignissen zu profitieren, die dann dort stattgefunden hatten. Sein Stern war nun wieder im Aufgehen begriffen. Er hatte praktisch die Kontrolle über den möglicherweise einflussreichsten Teil des gesamten imperialen Interesses an den Sabbatwelten. Es kursierten bereits Gerüchte, Lugo könne sich darauf freuen, Macaroth als Kriegsmeister abzulösen, falls die gegenwärtige Stagnation andauere. Er war tatsächlich so etwas wie der kommende Mann.

Gaunt konnte das Selbstvertrauen und den Ehrgeiz beinahe am Marschall riechen. Tatsächlich war es der Geruch nach Rasierwasser, aber für Gaunt entsprachen diese Gerüche einander. Lugo war auf Macht aus. Wirkliche Macht. Und die Aussicht darauf weckte in ihm einen so großen Appetit darauf, dass man fast seinen Magen knurren hören konnte.

Und es war absolut offensichtlich, dass Ibram Gaunt, der Lugo auf Hagia so beschämt hatte, das Letzte war, was Lugo im Weg haben wollte.

»Warum lächeln Sie, Gaunt?«

Gaunt zuckte die Achseln. »Ohne Grund, Marschall. Ich bin nur froh, dass wir die Angelegenheit zwischen uns regeln konnten.« In der Tat ohne Grund. Gaunt lächelte, weil er zum ersten Mal, seitdem er auf Aexe Cardinal seine Befehle erhalten hatte, froh darüber war, auf Herodor zu sein.

Wie man ihm zu verstehen gegeben hatte, war er nur hier, weil sie es verlangt hatte. Lugo hätte Gaunt niemals angefordert. Wer – oder was – sie auch war, sie hatte Einfluss. Sie hatte hier das Kommando, wirklich das Kommando, und Lugo war gezwungen, ihrem Willen zu gehorchen. Lugo und seine Taktiker nahmen sie ernst. Entweder das, oder Lugos Befähigung zur Intrige war so groß, dass Gaunt ihre heimtückischen Mechanismen nicht einmal im Ansatz erkannte.

»Sie sagen, sie hat darauf bestanden, dass die Nachricht ihrer Rückkehr überall verbreitet wird?«, fragte Gaunt.

Lugo nickte. Er war zum Fenster gegangen und schaute auf die Stadt, während sich die ersten Schleier des Abends über die Szenerie legten. »Sie wollte es nicht geheim halten, wie energisch meine Berater auch Einspruch erhoben haben. Soviel ich verstanden habe, kann sie nicht begreifen, warum ihre Rückkehr nicht allgemein bekannt gemacht werden sollte. Sie bezeichnet sich selbst als Werkzeug, Gaunt. Als Werkzeug des Goldenen Throns. Sie verkörpert eine Macht und einen Vorsatz zum Wohle der Menschheit. Wäre es geheim gehalten worden, hätte sie weder Macht noch einen Vorsatz gehabt. In gewisser Weise ergibt es einen Sinn.«

»Es macht sie verwundbar. Es macht diese Welt und diese … verzeihen Sie meine Offenheit … schwache Stadt verwundbar.«

Lugo beobachtete, wie die Lichter der Stadt in der zunehmenden Dunkelheit angingen. Ein Wind aus der Wüste war aufgefrischt und ließ winzige Glassplitter gegen die dicke Fensterscheibe prasseln. »Das tut es. Das tut es in der Tat.«

»Warum sind wir dann hier, Marschall? Warum hier auf diesem unbedeutenden Planeten? Ihre Macht und ihr Vorsatz könnte doch an der Spitze des Kreuzzugs sehr viel wirkungsvoller zum Einsatz gebracht werden. Zum Beispiel beim Kriegsmeister auf Morlond?«

Lugo wandte sich vom Fenster ab. Er lächelte jetzt. »Es freut mich wirklich sehr, diese Worte aus Ihrem Mund zu hören, Gaunt. Sie entsprechen genau meiner Überzeugung. Sie dürfte nicht hier sein. Wir müssen sie zu einem … Ortswechsel bewegen.«

»Natürlich«, sagte Gaunt, »obwohl all das voraussetzt, dass sie ist, was sie zu sein behauptet.«

Lugos Miene verfinsterte sich plötzlich. »Sie glauben es nicht?«

»Ich …«, begann Gaunt.

Lugo trat einen Schritt vor. »Wenn Sie nicht glauben, kann ich kaum einen Sinn in Ihrer Anwesenheit hier sehen.«

»Ich wäre noch zu überzeugen, Marschall.«

»Sie wären was? Sie reden wie ein verdammter Ketzer, Gaunt.«

»Nein, Marschall, ich …«

»Die Heilige Sabbat wurde reinkarniert. Sie ist wieder Fleisch geworden, sodass sie uns hier auf den Welten, die ihren Namen tragen, zum Sieg führen kann. Dies ist ein Moment, wie ihn sich die Menschheitsgeschichte nicht hätte träumen lassen! Der Moment eines heiligen Wunders! Und Sie wären noch zu überzeugen?«

Gaunt öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er begegnete dem harten Blick des Marschalls.

»Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass Sie ihr begegnen«, sagte Lugo. »Entweder das, oder es wird höchste Zeit, dass Sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.«

 

In einer kalten, einsamen Nacht wie der, die sich gerade über Civitas Beati senkte, aber sechstausend Jahre zuvor, hatte die Heilige ihr Zeichen auf Herodor hinterlassen. Damals war Civitas Beati noch nicht so genannt worden. Es war nur ein einziger Kolonieturm gewesen, die Basis dessen, was eines Tages die Altmakropole werden sollte, die zentrale Makropolspitze, und damals hatte er Habitat Alpha geheißen. An der Spitze ihrer zusammengewürfelten Kavalkade von einer Armee, einem Heer, das aus kolonialen Regimentern, bewaffneten Pilgern, einer Komturei der Militanten Schwestern, die später den Orden Unserer Märtyrerin bilden sollten, sowie einer Abteilung des mittlerweile ausgelöschten Astartes-Ordens der Messingschädel bestand, hatte die Heilige an der Gnadenschlucht eine Chaos-Streitmacht besiegt und vertrieben, und sie war nach Habitat Alpha gekommen, um ihre Wunden zu reinigen. Sie und ihre Auserwählten hatten in den Thermalquellen gebadet und sie damit für alle Zeiten gesegnet. Am nächsten Morgen hatte sich das Heer erfrischt aufgemacht und die Chaos-Truppen im Scherbental bei deren neuerlichem Vorstoß ausgelöscht. Es hieß, dabei habe sie allein achtzehnhundert feindliche Krieger besiegt, darunter auch ihren Archon, Marak Vore.

All das stand in den Annalen und Geschichtsbüchern. Gaunt wusste es seit seiner Kindheit. Unter Slaydo hatte er alles auswendig gelernt.

Der Badeschrein, wo Sabbat ihre Wunden gewaschen hatte, befand sich in den tiefsten Tiefen der Altmakropole. Er war aus schwarzem Basalt gefertigt und wurde lediglich von Elektrokerzen und Biolichtkugeln erhellt. Bedienstete und Schreinpriester eilten hinaus, als sich Lugo mit seinen höchsten Stabsoffizieren und den Soldaten seiner Leibgarde durch den langen Steinkorridor näherte. Es war heiß und feucht und roch nach Schwefel und Eisen.

Sie erreichten die Tür. »Wir warten hier«, sagte Lugo. »Wir alle«, fügte er mit einem vielsagenden Blick auf Stabsärztin Curth hinzu, die Gaunt hatte rufen lassen, um ihn zu begleiten, bevor er dem Marschall in die Tiefen des Makropolturms gefolgt war. Curth sah Gaunt an, der nickte.

»Bleiben Sie hier. Ich rufe Sie, falls ich Sie bei mir haben will.«

Gaunt trat durch die massiven Türen, die sich hinter ihm schlossen. Es war düster und still, und die feuchtheiße Luft war von Dampf erfüllt, der aus den tief ausgeschnittenen Badebecken aufstieg. Eine schmale, hundert Stufen lange Treppe, die aus leuchtend weißem Kalkstein gehauen war, führte von der Tür nach unten, deren Seitenränder von vielen Tausend Elektrokerzen gesäumt wurden. Der Kerzenschein wurde vom träge schwappenden Wasser unten reflektiert. Im Osten lag die Kapelle des Imperators, im Westen die Gedenkkapelle der Heiligen. Gaunt ging die gebleichten, polierten Stufen hinunter und setzte seine Mütze ab. Er schwitzte bereits. Er ging zum Hauptbecken und starrte auf sein aufgewühltes Spiegelbild im rostfleckigen Wasser. Das Wasser stieg aus einer Grundwasserschicht tief unter der Stadt empor und wurde von den vulkanischen Öffnungen in der Kruste erhitzt und zum Sieden gebracht. Angeblich heilte es alle Wunden. Am Rand des Bades sah Gaunt viele Hundert Löffel, Becher und Kellen aus Messing, mit denen die Gläubigen tranken, sich tauften oder wuschen. Tief unten im Becken sah er Millionen Münzen, Klingen, Abzeichen, Orden und andere Opfergaben schimmern.

Er kniete sich neben das Becken, zog einen Handschuh aus und fuhr mit den Fingern durch das warme Wasser.

Auf der anderen Seite des Badebeckens ertönte ein Platschen, und Wellen schwappten auf seine Seite. Als er aufschaute, sah er gerade noch eine hellhäutige Gestalt mit dem Rücken zu ihm aus dem Wasser steigen. Es war eine Frau, die ein schlichtes weißes Unterhemd trug. Sie stieg tropfend die Seitentreppe des Beckens empor. Das nasse Leinen klebte an ihrem Körper, und er wandte den Blick ab. Zwei Schreinadepten tauchten aus dem Dampf auf und hüllten sie in ein langes, graues Gewand. Sie raffte es eng zusammen und zog sich die Kapuze über den Kopf.

Dann drehte sie sich um und sah Gaunt über das Wasser des heiligen Balneariums hinweg an. »Ibram.«

Er sah auf. »Sie kennen meinen Namen?«

»Natürlich.« Ihre Stimme klang leise und rauchig. Er sehnte sich danach, ihr Gesicht zu sehen. Ein lieblicher Duft drang ihm in die Nase, als hätten die scheidenden Adepten Räucherwerk auf die Elektrokerzen gebröselt. Islumbine, das war es. Der Duft nach Islumbine, der heiligen Blume der Beati.

»Ich bin froh, dass Sie da sind«, sagte sie.

»Ich bin gekommen, weil man mir gesagt hat, dass ich kommen soll«, sagte Gaunt. »Es wurde mir befohlen.«

Sie verschränkte die Arme und sah ihn über das dampfende Becken hinweg an. »Sie können aufstehen, wenn Sie wollen. Sie müssen sich nicht verbeugen.«

Er erhob sich langsam.

»Ich habe Sie angefordert. Ich habe die tanithischen Geister angefordert. Es freut mich, dass Gaunts Geister hier bei mir auf Herodor sind.«

Die Stimme war so lieblich und doch so eindringlich. Es war fast so, als kenne er sie bereits.

»Warum wir?«, fragte Gaunt.

»Wegen Ihrer Leistungen auf Hagia. Sie und Ihre Männer haben Ihr Leben riskiert, um meine sterblichen Überreste vor dem Erzfeind zu beschützen. Sie haben die Schreinfeste bis zum Letzten verteidigt. Da ist es nur recht und billig, wenn ich Sie hier und jetzt bitte, mich wieder zu beschützen, wie Sie es schon einmal getan haben. Ich will, dass die Geister mein innerster Kreis sind. Meine Ehrengarde.«

»Wir werden vor dieser Aufgabe nicht zurückschrecken«, sagte Gaunt. Er machte ein paar Schritte und bewegte sich langsam am Beckenrand entlang zur anderen Seite. »Ich hatte eine … nun ja, ich weiß eigentlich nicht, was es war. Ich hatte eine Vision auf Aexe Cardinal, dass sich dies ereignen würde. Eine Frau, die seit sechs Millennien tot ist, hat mir gesagt, dass ich Sie hier finden würde.«

»Wirklich?«, sagte sie, als überlege sie einen Moment. »Das ist gut. Das ist so, wie ich es beabsichtigt habe.«

»Haben Sie?«

»Natürlich.«

Er trat noch einen Schritt näher. »Sie hatten das beabsichtigt? Die Vision von der Sororitas? Sie haben diese Kapelle im Wald aus dem Nichts erschaffen?«

»Natürlich, Ibram.«

»Daran habe ich geglaubt. Es war wirklich. Beltayn und ich, wir waren völlig überzeugt davon. Wir hatten das Gefühl … von etwas Fremdartigem berührt zu werden, das wir nicht erklären konnten.« Er kam noch einen Schritt näher. Sie wich unmerklich vor ihm zurück.

»Nicht so wie jetzt«, fügte er hinzu.

»Ibram, Sie beunruhigen mich. Warum sind Sie so aufgeregt? Warum nähern Sie sich mir?«

»Weil ich Ihr Gesicht sehen will.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil …«

»Ich will Ihr Gesicht sehen, weil ich Ihre Stimme kenne!«

Er sprang nach ihr und packte sie. Sie streckte eine Hand aus und schob seinen Kopf weg, doch er schüttelte die Hand ab und riss ihre Kapuze nach hinten.

»Ich kenne Ihre Stimme«, wiederholte er, während sie darum kämpfte, sich zu befreien.

»Sanian.«

Sanian löste sich von ihm und zog ihr Gewand zusammen. Sie starrte ihn mit Augen an, die er nicht ergründen konnte.

»Sie glauben nicht.«

Gaunt wich einen Schritt zurück und schüttelte laut lachend den Kopf. »Ich wollte. Glauben Sie mir, ich wollte. Fünf Monate in einem Transporter, während man darauf wartet, die Wahrheit zu sehen? Nach diesem Augenblick sehne ich mich, seitdem Slaydo mir zum ersten Mal Sabbats Mysterien erklärt hat. Ich habe mit allem Möglichen gerechnet … Wahrheit, Lügen, Fantastereien. Aber nicht mit Ihnen, Sanian.«

Sie funkelte ihn an. Das schwarze Haar rahmte ihr wunderschönes Gesicht mit schwarzen Löckchen ein. Es war gewachsen, seit er sie zuletzt gesehen hatte, und von dem kahl rasierten Kopf mit dem Zopf der Esholi war nichts mehr zu sehen. »Sie müssen eins begreifen, Ibram: Ich bin nicht Sanian.«

»Das sind Sie. Ich kenne Sie. Sie sind die Esholi, die meine Männer zur Schreinfeste geführt hat. Milo redet immer noch von Ihnen.«

Der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich plötzlich und brachte ihn aus der Fassung. »Ach, Ibram. Natürlich bin ich Sanian. Zumindest mein Fleisch ist es. Ich brauchte ein Gefäß, und sie war das richtige. Sie war ein reizendes Mädchen und hat mir ihr Fleisch gegeben. Ich sehe wie Sanian aus. Meine Stimme klingt wie ihre. Aber ich bin nicht Sanian. Ich bin Sabbat. Das Mädchen aus den Bergen Hagias, in diesem zerbrechlichen Leib wiedergeboren.«

»Nein …«

»Beantworten Sie mir eins, Ibram. Wie hätte ich sonst zurückkehren sollen? Wie hätte ich sonst Fleisch finden sollen, um mich zu kleiden?«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist ein Trick. Lugo benutzt Sie. Sie sind nicht meine Heilige.«

 

Gaunt trat in den Korridor vor dem Bad, und Lugos Gruppe wich zurück, um ihn passieren zu lassen.

»Nun?«, fragte Lugo.

Gaunt starrte Lugo einen Moment an. »Es spielt keine Rolle, was ich glaube, oder?«

»Warum nicht?«

»Weil, soweit es das Imperium betrifft, soweit es Hunderttausende von Pilgern betrifft … und soweit es den Erzfeind betrifft … wir hier auf Herodor eine reinkarnierte Heilige haben. Und alles andere spielt keine Rolle.«

Lugo grinste. »Endlich verstehen Sie, worum es geht, Gaunt.«

 

Gaunt verließ das Balnearium und das Gefolge des Marschalls und ging durch die lange steinerne Kolonnade, die zum nächsten Aufzug führte. Die Diener aus dem Bad, die Hierarchen und Adepten, die sich bei Lugos Ankunft zurückgezogen hatten, warteten schweigend in der Kolonnade, stumme berobte Gestalten in der Düsternis. Er schob sich durch die Gruppen und wusste, dass sie ihn alle beobachteten.

»Gaunt! Gaunt!«, rief Curth, die ihm hinterherlief. Er blieb nicht stehen. Als sie ihn schließlich eingeholt hatte, wartete er vor der eisernen Käfigtür des Fahrstuhls auf die Ankunft einer Kabine.

»Wollen Sie mir nicht sagen, was los ist?«, fuhr sie ihn an.

Er sah sie an, die Augen in Schatten gehüllt. »Hatten Sie je ein Geheimnis, Curth? Eines, das ebenso viele schmerzen wird, wenn Sie es erzählen, wie es das tun wird, wenn Sie es für sich behalten?«

»Ja«, sagte sie aufrichtig, während ihr Gol Kolea durch den Kopf ging.

Ihre Antwort schien ihn zu überraschen, als habe er mit einem Nein gerechnet. »Wie haben Sie sich entschieden?«

»Gar nicht. Es ist für mich entschieden worden.«

»Ich befürchte, das wird hier auch geschehen.« Die mechanisch betriebene Fahrstuhlkabine hielt ächzend und klappernd an, und er zerrte die Kabinentür auseinander. Curth musste sich beeilen, hinter ihm einzusteigen, sonst hätte er ihr die Tür vor der Nase zugezogen. Einen Moment glaubte sie, er werde sie wieder aufziehen und ihr befehlen, auszusteigen. Stattdessen ging er zum Wandpaneel und zog an dem Messinghebel. Der Fahrstuhl setzte sich aufwärts in Bewegung, und das Gestänge surrte in der Schwärze des Schachts.

»Haben Sie sie gesehen?«, fragte sie, während sie beobachtete, wie die Lichter der vorbeirauschenden Etagen über sein Gesicht glitten.

»Ich habe sie gesehen.«

»Und das hat Sie in diese Stimmung versetzt?«

Er ließ langsam und gefährlich seinen angehaltenen Atem entweichen und sah dabei aus, als würde er gern auf etwas einschlagen.

»Sie haben mich gebeten, Ihnen zu helfen, Gaunt. Sie haben gesagt, Sie brauchten einen Beweis, um sich zu beruhigen.« Sie versetzte dem Ausrüstungstornister, der um ihre Schulter hing, einen leichten Schlag. »Ich habe den Bio-Scanner mitgebracht. Brauchen Sie den Beweis nun doch nicht?«

»Anscheinend nicht«, sagte er.

»Es ist nicht die Heilige, oder?«, fragte Curth.

Gaunt sagte nichts.

Mit einem Seufzer beugte sie sich vor und zog den Messinghebel nach unten, um den Fahrstuhl anzuhalten. Die Kabine kam mit einem Ruck zwischen zwei Etagen zum Stillstand. Irgendwo ertönte ein Summer. Auf dem Bedienfeld blinkte ein bernsteinfarbenes Licht.

»Reden Sie mit mir«, sagte sie.

»Lassen Sie es auf sich beruhen, bitte, Frau Stabsärztin.«

Curth schüttelte den Kopf. »Ich habe Sie beobachtet, Ibram. Auf der ganzen Fahrt von Aexe Cardinal hierher, seit die Nachricht durchkam. Ein Teil von Ihnen will, dass sie es ist, und ein Teil von Ihnen befürchtet, dass sie es nicht ist. Wissen Sie, was ich gedacht habe? Ich dachte, in dem Augenblick, wenn Sie sie sehen, würden Sie sicher sein. Einfach so. Dass es vollkommen unnötig sein würde, eine Gen-Prozedur auszuführen, um Ihre Frage zu beantworten. Ich wusste, Sie würden es wissen. Und Sie wissen es.«

»Ich weiß es.«

»Sie ist es nicht.«

»Sie ist es nicht.«

»Beim Thron!«, keuchte sie, dann setzte sie ihren Gedankengang fort. »Was setzt Ihnen dann so zu? Enttäuschung? Wut? Sie sind hergekommen, um sich so oder so Gewissheit zu verschaffen, und die haben Sie nun. Zumindest das sollte Sie zufriedenstellen.«

»Erinnern Sie sich noch an Sanian?«

Sie zuckte die Achseln. »Nein, ich … ach, warten Sie. Ein Mädchen auf Hagia, eine Studentin … Esholi, so wurden sie genannt, nicht wahr? Sie war bei Corbecs Haufen.«

»Das ist sie.« Er starrte sie an.

Ihre Augen weiteten sich. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Gaunt! Sie? Sie ist die Heilige?«

»Soweit ich das sagen kann, glaubt Sanian, dass sie die Reinkarnation Sabbats ist. Sie ist geistig klar und überzeugend, kann ich mir vorstellen, für jemanden, der sie nicht bereits kennt. Sie braucht psychiatrische Behandlung in einem Sanatorium des Imperiums. Aber man hat ihren potenziellen Wert erkannt. Ihren Propagandawert.«

»Lugo?«

»Man sieht ihm an, wie entzückt er ist, dass seine Karriere wieder vorankommt. Ihm ist völlig egal, ob sie echt ist oder nicht. Ihn interessiert nur die Tatsache, dass sie überzeugend ist. Der Kreuzzug braucht dringend ein Wunder … und er ist derjenige, dessen man als dem Mann gedenken wird, der dieses Wunder möglich gemacht hat.«

Sie streckte zaghaft die Hand aus und drückte ihm beruhigend die Schulter. »Dann sagen Sie die Wahrheit. Als Diener des Gott-Imperators haben Sie bislang immer auf Fehler hingewiesen.«

»So einfach ist das nicht. Sie ist strategisch wertvoll, daran führt kein Weg vorbei. Als Ikone, als Sammelpunkt, könnte sie diesen Krieg für uns gewinnen. Ihre Anwesenheit könnte uns moralischen Auftrieb geben und die Entschlossenheit des Feindes schwächen. Wenn sie die Rolle auch weiterhin spielt und wir alle mitmachen und sagen, wir glauben, könnten wir den gesamten Sternhaufen befreien. Aber ich glaube nicht, dass ich bei so einer Sache jemanden belügen kann. Nicht Zweil … nicht Corbec und Dorden und Daur und die anderen, die auf Hagia mit der Heiligen Kontakt hatten. Sie haben dort an eine Wahrheit geglaubt, an eine Wahrheit, die ich auch gespürt habe. Ich kann sie nicht bitten, stattdessen an diese Lüge zu glauben.«

»Lassen Sie sie diese Entscheidung selbst treffen«, sagte sie.

»Ah, da sind Sie ja«, sagte Corbec, indem er von der Datentafel aufsah, mit der er herumgespielt hatte. »Es wird Sie freuen zu hören, dass wir uns einrichten. Die Quartiere sind ausgezeichnet. Ich habe hier eine Liste der Standorte, wenn Sie wollen.«

Gaunt ignorierte die Tafel, die Corbec ihm hinhielt.

»Oder vielleicht nicht. Jedenfalls machen wir uns mit dem Gelände vertraut. Rawne und Mkoll sind gerade draußen und bringen rings um die Stadt Trupps in Stellung. Wir haben neunzehn im Feld und errichten in Zusammenarbeit mit dem hiesigen Militär Zwischenstationen. Es kann nicht viel werden, aber bis zum Morgengrauen müssten wir eine grundlegende Verteidigung an der Nord- und Ostflanke eingerichtet haben. Die Einheimischen zählen ungefähr zwölftausend Mann und verfügen über mittelschwere Panzer, und der Landetrupp des Marschalls besteht noch einmal aus tausend Mann plus leichte Panzer sowie einige Einheiten mit Spezialwaffen.«

»Wo ist Milo?«

»Milo?« Corbec runzelte die Stirn und blätterte die Stationierungslisten auf seiner Datentafel durch. »Ich würde sagen, im Moment ist er mit seinem Trupp in Glaswerke. Das ist … äh … im Nordwest-Abschnitt.«

Gaunt nickte. »Gehen Sie ans Kom und holen Sie ihn hierher.«

»Laut Dienstplan werden sie um zehn Uhr morgen früh im Quartier zurückerwartet, und …«

»Sofort, bitte, Oberst.«

»Aha. Wird gemacht, Herr Kommissar.«

Gaunt ging an ihm vorbei in den weitläufigen Saal mit der Kuppeldecke in der achtzigsten Etage des dritten Makropolturms, wo das Erste Tanith seinen Kommandostand eingerichtet hatte. In dem großen Raum, dessen Fenster auf zwei Seiten mit Jalousien verschlossen waren, arbeitete Regimentspersonal emsig mit Mitgliedern des Regiments Civitas Beati und Tech-Adepten der regulären Planetaren Streitkräfte Herodors zusammen, um große Kom-Stationen, Taktiktische und Relaisschaltungen einzurichten. Stromleitungen und Datenübertragungskabel schlängelten sich über den Boden. Techniker schlossen tragbare Kommunikationspulte und Holo-Kartentische an.

»Ist alles in Ordnung mit ihm?«, fragte Corbec Curth, die Gaunt in den Raum gefolgt war.

»Eigentlich nicht«, sagte sie.

Gaunt drehte sich noch einmal zu Corbec um. »Was ist da?«, fragte er, indem er auf einen Seitendurchgang zeigte, der in einen anderen Raum führte.

Corbec eilte zu ihm. »Nur ein zusätzlicher Raum. Daur meinte, wir könnten ihn für Einsatzbesprechungen benutzen. Das Munitorium bringt Stühle und ein paar Tische. Beltayn hat auch etwas zu essen organisiert. Den Flur entlang und dann links, da gibt es reichlich …«

Gaunt fiel ihm ins Wort. »In zwei Minuten will ich Sie, Dorden, Zweil und Daur zu einer privaten Besprechung in dem Raum sehen. Hark auch, wenn er in der Nähe ist.«

Corbec zuckte die Achseln und nickte. »Wie Sie wünschen, Herr Kommissar.«

 

Sie nahmen ihre Plätze ein. Corbec, der alte Ayatani-Priester Zweil, Hauptmann Ban Daur, der verghastitische dritte Offizier, Dorden, der Oberstabsarzt, und Viktor Hark, der Regimentskommissar. Curth kam ebenfalls und nahm abseits Platz. Bevor er sich setzte, konfigurierte und aktivierte Daur den tragbaren Vertraulichkeitsschirm, der elektromagnetische Störfelder erzeugte, um die Privatheit der Besprechung zu gewährleisten.

»Was ich zu sagen habe, darf diesen Raum nicht verlassen«, sagte Gaunt.

Die Männer nickten. Die abseits sitzende Curth verschränkte die Arme und zog die Schultern hoch.

»Ich bin der Heiligen begegnet«, sagte Gaunt.

»Dem Imperator sei Dank!«, murmelte Zweil.

Harks Miene verriet Unwohlsein, was ein Zeichen dafür war, dass er wusste, was nun kommen musste.

»Sie ist nicht echt.«

Eine längere Pause trat ein. Corbec starrte mit leerem Blick auf die Wand vor sich. Daur ächzte und legte den Kopf in die Hände, um deren Knöchel Glaubensbänder aus grüner Seide gewickelt waren. Dorden schloss die Augen und faltete eine Hand um die andere. Zweil blinzelte.

»Sie … Entschuldigung, wie bitte?«, sagte Zweil.

»Sie ist eine Fälschung. Eine Erfindung. Eine Kriegslist.«

»Ach, Feth …«, seufzte Corbec.

»Ernsthaft?«, fragte Daur. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Hinzu kommt«, sagte Gaunt, »dass wir sie kennen. Sie, Colm, Sie, Dorden, und Sie auch, Daur. Soweit ich es sagen kann, glaubt sie wahrhaftig, dass sie die reinkarnierte Sabbat ist. Aber als ich ihr von Angesicht zu Angesicht begegnet bin, wurde mir klar, dass es das arme Mädchen ist, das wir auf Hagia kennengelernt haben: Sanian.«

»Sanian?«, wiederholte Corbec benommen.

»Nein, nein … das … nein, das kann nicht sein«, sagte Zweil erregt. »Die Heilige ist zurückgekehrt, die Beati. Das hat man uns gesagt. Sie ist hier …«

»Das ist sie nicht. Es ist … ein Schwindel«, sagte Gaunt.

»Absolut nicht!«, rief Zweil und sprang auf.

»Vater … Vater, bitte. Mir ist klar, dass es ein schwerer Schlag für Sie ist, das zu hören.«

»Sie ist es! Sie muss es sein!« Zweil war mittlerweile so erregt, dass Dorden und Curth sich beide erhoben hatten. »Sie ist die wiedergeborene Heilige, nicht irgendein Esholi-Kind, das krank im Kopf ist!«

»Ich glaube«, sagte Hark, der langsam seine schwarzen Lederhandschuhe überstreifte, »Zweil sollte es wissen. Schließlich ist er ein Ayatani des Beati-Kults.«

Gaunt warf Hark einen gefährlichen Blick zu. »Sie ist nicht echt«, wiederholte er.

»Sie war auf Hagia«, sagte Dorden, der Zweil den Arm um die Schultern gelegt hatte. Er starrte Gaunt an. »Sie hat zu mir gesprochen.«

»Ich weiß, Tolin«, sagte Gaunt.

»Sie hat auch zu mir gesprochen«, sagte Daur.

»Und zu mir, Boss«, sagte Corbec.

»Ich weiß, Colm. Ich glaube fest, dass Sie und Ban und Tolin … und auch noch andere … eine Botschaft von der Heiligen erhalten haben, die Sie alle zu dem beflügelt hat, was Sie getan haben. Ich sage nur, dass … das hier nicht die Heilige ist. Nicht hier. Nicht jetzt.«

»Aber …«, begann Daur.

»Hat sie seitdem zu Ihnen gesprochen?«, fragte Gaunt.

Die Männer schwiegen.

»Ketzer! Sie hat zu Ihnen gesprochen«, rief Zweil plötzlich.

»Was?«

»Zu Ihnen … und Beltayn. Auf Aexe Cardinal. Durch ihre Dienerin.«

Gaunt schloss die Augen und versuchte den Ärger im Zaum zu halten, der in ihm hochstieg. »Ayatani Zweil … das habe ich Ihnen unter dem Siegel striktesten Stillschweigens anvertraut. Es sollte unter uns bleiben. Wie eine Beichte, sakrosankt. Ich habe mich darauf verlassen, dass Sie es für sich behalten würden.«

»Ja, aber das ist zu wichtig!«, schnauzte Zweil. Der skelettdürre alte Priester schwankte, und einen Moment befürchtete Gaunt, er werde umfallen. »Das Chaos hole meine Schwüre, Sie lügen in dieser Angelegenheit, und das lasse ich nicht zu!«

»Wovon redet er, Gaunt?«, fragte Dorden.

»Von Dingen, über die zu reden ihm nicht zusteht, Doktor«, sagte Gaunt.

»Er weiß es!«, rief Zweil.

»Ich glaube, Sie sollten es uns erzählen, Herr Kommissar«, sagte Corbec.

»Das ist kaum der rechte Zeitpunkt und auch nicht …«

»Erzählen Sie es ihnen!«, schrie Zweil. »Erzählen Sie ihnen, was Sie mir erzählt haben! Erzählen Sie ihnen, was mich hat glauben lassen!«

Gaunts Blick wanderte langsam von einem Gesicht zum anderen. Ihm ging auf, dass er in diesem Augenblick keinen einzigen Freund in dem Raum hatte.

»Na schön. Auf Aexe bin ich von der Front nach Meiseq gefahren, um mich mit Van Voytz zu treffen. Beltayn war bei mir. Unser Zug wurde aufgehalten, und wir gingen eine Weile zu Fuß und entdeckten dabei diese Kapelle im Wald. In der Kapelle war eine alte Frau. Sie schien uns zu kennen, und sie hat mich vor Herodor gewarnt, lange bevor der Befehl kam. Später haben Beltayn und ich versucht, die Kapelle wiederzufinden. Wir … haben sie nicht wiedergefunden, und ich habe keine Erklärung dafür.«

»Erzählen Sie ihnen den Rest«, sagte Zweil.

»Der tut nichts zur Sache«, sagte Gaunt.

»Doch, das tut er! Er spricht Bände! Die Frau, die sie getroffen haben, hat sich vorgestellt, und später haben sie herausgefunden, dass sie vor sechstausend Jahren hier auf Herodor gestorben ist!«

»Das reicht!«, fauchte Gaunt.

»Ja, es reicht«, sagte Zweil. »Es reicht völlig. Es reicht als Beweis nach jedermanns Maßstäben. Die Heilige hat Ihnen aufgetragen, hierher zu kommen und ihr zu dienen! Wie können Sie es jetzt wagen, sich ihr zu widersetzen!«

Gaunt nahm seine Mütze ab und setzte sich. Alle starrten ihn an.

»Ich weiß nicht, was auf Aexe in dem Wald passiert ist. Seitdem ist es mir immer gegenwärtig. Es tut mir Leid, dass ich es keinem von Ihnen erzählt habe. Aber es ändert nichts an den Tatsachen. Die Heilige hier ist nicht die Heilige. Sie ist eine Schwindlerin. Und fürs Protokoll«, fügte Gaunt mit einem Blick auf Zweil hinzu, »ich bin entsetzt über Ihren Mangel an Vertraulichkeit, Vater.«

»Ach, Sie werden schon darüber hinwegkommen!«, fauchte Zweil. Er schüttelte Dordens Arm ab. »Sagen Sie mir eines, Ibram Gaunt … wenn diese Heilige eine so offensichtliche Fälschung ist, warum hat sie Sie dann hierher beordert? Sie, den einzigen Mann, der sie bloßstellen kann?«

Gaunt zuckte die Achseln. »Ich weiß keine Antwort auf diese Frage.«

»Und wenn Lugo wirklich die Fäden zieht«, fügte Corbec hinzu, »warum sollte er es zulassen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Gaunt.

»Ich weiß eines«, sagte Hark, indem er sich erhob. »Es spielt keine Rolle, ob sie die Heilige ist oder nicht. Soweit es Millionen, vielleicht Milliarden Bürger des Imperiums betrifft, ist sie die wiedergeborene Sabbat. Wahrheit oder Lüge, wir können nicht daran rütteln, sonst sinkt die allgemeine Moral über Nacht auf den Nullpunkt.«

»Darauf wollte ich noch zu sprechen kommen, Hark«, sagte Gaunt. »Wir haben hier eine Pflicht zu erfüllen, ob sie uns gefällt oder nicht …«

»Zu lügen?«, fragte Dorden kalt.

»Sogar das«, sagte Gaunt.

Zweil stieß ein leises Ächzen aus und schlurfte zur Tür. Dort blieb er stehen und drehte sich zu Gaunt um. »Warum hier?«, fragte er. »Wenn es eine Lüge ist, warum dann gerade hier?«

Gaunt konnte ihm nicht antworten.

Zweil verließ den Raum, und Dorden und Curth folgten ihm besorgt.

»Wegtreten«, sagte Gaunt.

Corbec und Daur gingen beide, und das Unbehagen war ihnen anzusehen.

Gaunt wandte sich an Hark. »Wie ich sehe, hat Ihr alter Herr und Meister Sie bearbeitet.«

Hark schüttelte den Kopf. »Lugo? Er ist nicht mein …«

»Halten Sie den Mund, Viktor. Lugo hat Sie auf Hagia zu den Tanithern abgestellt. Sie sollten mein Ersatz sein. Er …«

»Nein, Ibram. Ich sollte Ihr Richter und Henker sein. Das hat Lugo von mir gewollt. Eigentlich bin ich der Ansicht, dass ich mich seitdem bei Ihnen und den Geistern bewiesen habe. Ja, Lugo hat nach unserer Ankunft hier mit mir geredet. Ich werde nicht lügen. Er hat mich aufgefordert, Sie zu bearbeiten. Er war der Ansicht, Sie könnten Sabbat überreden, nach Morlond zu fliegen. Das würde seiner Sache wirklich unendlich viel nützen.«

»Ich verstehe. Und?«

Hark lächelte. »Ich habe ihm gesagt, Sie würden Ihre Entscheidungen selbst treffen.«

Gaunt nickte.

»Zweil wird sich beruhigen«, sagte Hark. »Es liegt in seiner Natur, viel Wind zu machen. Was mich interessiert, ist die Frage, ob er recht hat.«

»In welcher Beziehung, Viktor?«

»Wenn diese Heilige Sabbat eine Fälschung ist … warum wir … und warum hier?«


DREI

Unheilige Nacht

»Jeder hat eine Wahl. Meine Wahl ist die, keine Wahl zu treffen. Was? Was denn? Was ist so komisch daran?«

– Hlaine Larkin, Geist

 

Wenn er bisher etwas über Herodor gelernt hatte, dann, dass die Nächte verdammt kalt waren. Der Schild um die Stadt stand, und dafür konnten sie durchaus dankbar sein, aber der Wüstenwind schnitt wie ein Kettenschwert unter dem Dach aus Energie durch und drang bis auf die Knochen.

Wenn Larkin den Vortrag seines Sergeanten richtig verstanden hatte, wurde das Gebiet, in dem die Landungsboote sie abgesetzt hatten, Glaswerke genannt, eine baufällige, zweitausend Hektar große Ansammlung schmuddliger Werkstätten, Lagerschuppen und Manufakturen im Nordwesten der Stadt. Es schien sehr, sehr weit von jeder netten Gegend entfernt zu sein. Die eigentliche Civitas, hell erleuchtet und heimelig aussehend, lag ein gutes Stück hinter ihnen. Hier vermengte sich das Licht von Feuern in Metallfässern und Phosphalampen mit dem dunstigen Schein des Schilds über ihnen zu einem blauen Unterwasser-Dämmerlicht.

Oben am Nachthimmel funkelten Sterne, die keine waren. Jene undeutlichen Lichtpunkte waren Hunderte – möglicherweise Tausende – von Pilgerschiffen, die es nach Herodor zog.

Larkins Trupp, Nummer Elf, war mit Zehn und Zwölf nach Glaswerke geschickt worden, um diesen Abschnitt des Stadtrands zu sichern. Ein Kinderspiel – auf dem Papier. In der Praxis war es schwierig, überhaupt den Stadtrand zu finden. Das ganze Gebiet war von Pilgern überlaufen, und deren Zeltstädte waren wie Waldpilze zwischen den leeren Gebäuden – tatsächlich sogar in einigen – aus dem Boden geschossen und erstreckten sich bis in die Wüste und jenseits der Grenze des knisternden Schilds. Es gab keinen definierten Stadtrand.

Die Waffen über die Schulter geschlungen, bewegten sich die Geister voller Unbehagen durch die Dämmerlichtwelt des Lagers. Die Pilger kauerten um kleine Feuer und kochten ein Abendessen oder bildeten Gebetskreise. Infardi in grüner Seide führten Rituale rings um ihre Uhrenschreine aus oder schritten durch das Lager und verteilten Pamphlete. Viele trugen eine Tonsur oder hatten sich den Nacken ausrasiert, andere klammerten sich an Transparente oder Embleme der Heiligen. Die Extremsten hatten sich selbst die Stigmata der neun Wunden zugefügt oder sich heilige Traktate auf die Haut tätowiert. Manche hatten Peitschen oder Stöcke, um sich zu geißeln. Jeder zeigte stolz sein Pilgerabzeichen, und jeder sah abgehärmt und durchgefroren aus.

»Dichter beisammen bleiben, Larks«, rief Sergeant Obel. Larkin beeilte sich aufzuschließen. Einfach nur so ließ er sein Präzisionsgewehr von der Schulter gleiten und das Zielrohr herumwandern. Durch den vergrößernden Entfernungsmesser betrachtete er ein paar Stellen in der dunstigen Kälte der Obsidae jenseits des Lagers. Einen kurzen Moment glaubte er eine Bewegung in der Ferne zu sehen. Doch es war nur der Wind, der den Staub aufwirbelte. Das ist alles, sagte er sich. Nicht der Feind.

Soweit es Hlaine Larkin – den besten Scharfschützen des Regiments – betraf, war der Feind eigentlich nirgendwo da draußen. Er war bereits in der Stadt, mitten unter ihnen.

Und sein Name war Lijah Cuu.

 

Nur fünfhundert Meter von Larkin entfernt, in einem anderen Teil des ausgedehnten Lagers, hob Soldat Cuu sein Lasergewehr zum Schuss.

»Noch einen Schritt, Gakschädel«, zischte er, »und ich belüfte deinen Körper, so sicher wie sicher.«

»Nehmen Sie das weg«, schnauzte Sergeant Criid, während sie sich an Cuu vorbeidrängte und seinen Gewehrlauf mit einer beiläufigen Geste in den Himmel schob. »Wer Sie auch sind, Sie müssen sich identifizieren.«

Anton Alphant drehte sich um und sah sie an. Er hob die Arme, sodass sie sehen konnte, dass seine Hände leer waren.

»Ich will keinen Ärger machen, Soldat«, sagte er.

»Sergeant«, korrigierte sie und ging vorwärts, bis sie vor ihm stand, während ihr Trupp – der Zehnte – dicht hinter ihr blieb.

»Verzeihung, Sergeant. Es ist ein paar Jahre her.«

»Was denn?«, fragte sie. Alphant mochte sie bereits. Hart, beinahe spröde, flinke Augen, selbstsicher. Und ein Blickfang, wenn man harte, schlanke Mädchen mochte. Natürlich nicht mehr die Kragenweite eines alten Mannes wie ihn.

»Ich war in der Garde. Vor Jahren. Entschuldigung, das ist nicht wichtig, oder?«

Criid zuckte die Achseln. »Unser Auftrag lautet, dieses Gebiet zu sichern. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn die Pilger in ihren Lagern bleiben, aber wir dürfen sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht in der Gegend herumlaufen lassen.«

»Wegen der Angriffe?«, sagte er.

Sie nickte. »Sie sind ein Pilger, nehme ich an? Haben Sie Papiere?«

Alphant bestätigte mit einem kurzen Nicken und öffnete dann bedächtig sein Gewand so, dass sie ständig sehen konnte, was seine Hände taten. Er zückte sein Bündel mit Zertifikaten.

DaFelbe, Criids Nummer zwei, ein hochgewachsener, dünner, ernster junger Mann, eilte nach vorn und unterzog Alphants Papiere der Prüfung durch ein Handlesegerät.

»Anton Alphant«, las DaFelbe vor. »Eingetragener Infardi-Pilger. Angereist von Khan II, Geburtsort …«

»Das reicht«, sagte Criid. Sie nahm die Papiere und ging damit zu Alphant. »Hier steht, dass man Ihnen einen Platz in dem Lager im Bezirk Eisenhalle zugewiesen hat. Sie sind etwas vom Weg abgekommen.«

»Ich … ich habe jemanden gesucht«, sagte Alphant.

»Wen?«

»Das ist jetzt nicht wichtig. Ich habe mich ohnehin verlaufen, fürchte ich. Ich wollte eigentlich nur sehen, ob die Türen von dieser Manufaktur da offen sind. In diesem Teil des Lagers gibt es viele kleine Kinder, und ich hatte gehofft, sie darin unterbringen zu können, damit sie ein wenig geschützt sind.«

»Warum? Sind Sie so eine Art gewählter Anführer?«

»Nein, ganz und gar nicht. Es ist nur … die Nächte sind ziemlich kalt.«

»Tja, das sind sie wohl«, sagte Criid. »Hwlan?«

Einen Moment später stand der Späher des Zehnten neben ihr.

Criid deutete mit einem Kopfnicken auf das Gebäude in der Nähe. »Öffnen Sie die Manufaktur da, bitte. Ein paar Kinder hier könnten den Schutz heute Nacht gut gebrauchen.«

»Wird gemacht«, sagte Hwlan.

»Nessa … geben Sie ihm Rückendeckung«, fügte Criid hinzu, während sie dem Scharfschützen des Trupps den Befehl in Gebärdensprache gab. Nessa Bourah nahm ihr Präzisionsgewehr und eilte dem Späher hinterher.

Hinter ihnen gab es Bewegung, aber es war nur Sergeant »Shoggy« Domor und der zwölfte Trupp, der zu ihnen aufschloss.

»Habt ihr irgendwas gesehen?«, fragte Domor.

Criid schmunzelte über die unbeabsichtigte Ironie der Frage. »Das frage ich dich.« Seine augmetischen Glupschaugen klickten und surrten, während sie den Horizont absuchten.

»Nicht genug, um darauf zu spucken, Tona«, sagte er.

»Sei dankbar dafür«, sagte sie.

Weiter hinten in der Reihe der Geister rieb sich Brin Milo die kalten Hände und schaute in die Ferne.

»Was, bei Feth, machen diese Leute?«, fragte er.

»Die da?«, erwiderte Nehn. »Ihr Gleichgewicht halten, würde ich sagen.«

Im gesamten Pilgerlager erhoben sich ebenso allgegenwärtig wie die bizarren Uhrenschreine dünne Türme in die Luft. Die meisten waren aus Holz, einige aus Stahl und einige aus Stein und standen auf Rollwagen. Auf der dünnen Spitze jedes Turms stand ein Pilger.

»Styliten«, sagte Korporal Chiria, als wisse sie genau Bescheid. Sie war eine stämmige Verghastitin, und ihr schlichtes Gesicht war im Zuge ihrer letzten Kampfhandlungen massiv durch Narben entstellt worden. »Styliten, weißt du? Sie stehen auf Sockeln und Säulen, Milo.«

»Äh … warum?«

»Tja«, überlegte Chiria, »das weiß ich auch nicht genau.«

»Bringt sie der Heiligen näher«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Beweist ihren Glauben.«

»Wirklich, Gol?«, fragte Milo.

Gol Kolea legte sein Lasergewehr nieder und dachte angestrengt nach. Es tat weh, es mit anzusehen. Gol Kolea war früher der Anführer des zehnten Trupps gewesen, und seine Leistungen hatten sich sehen lassen können. Manche hatten gesagt, er eigne sich für eine Offizierslaufbahn. Doch vor zwei Jahren, auf Phantine, hatten die Splitter eines Flechettewerfers der Loxatl seinen Kopf getroffen und ihm Verstand und Persönlichkeit entrissen. Es war eine himmelschreiende Schande, eine echte Tragödie. Kolea sagte selten mehr als ein paar Worte. Seine letzte Bemerkung war schon so etwas wie ein Roman.

»Woher weißt du das, Gol?«, fragte Milo.

»Weiß nicht«, sagte Kolea. Er kratzte sich seitlich am Kopf. »Ist aber so.«

»Ach, ihr kennt doch den Sergeant«, sagte Cuu, der angeschlendert kam. Er war der Einzige, der Kolea immer noch mit seinem früheren Rang ansprach. »Redet einen Haufen Gak, stimmt’s nicht, Gakschädel? Hm? Hm? So sicher wie sicher.«

»Eines Tages, Lijah«, sagte Chiria giftig, »wird dir irgendjemand einen Laserstrahl mitten zwischen die Augen setzen.«

»Ach ja? Und wer soll das sein? Du?«, kicherte Cuu. »Dafür fehlen dir die Eier, Chiria. So sicher wie sicher.«

Milo drehte sich zu Cuu um und starrte in sein durch eine Längsnarbe geteiltes Gesicht. »Wenn du nicht aufhörst, dich über Kolea lustig zu machen, tue ich es selbst, hast du verstanden?«, sagte Milo.

Cuu grinste. »Uiii, vorsichtig, Maskottchen. Brich dir keinen dabei ab!«

Milo ließ sein Lasergewehr fallen und ballte die Fäuste.

»Schluss! Das reicht!«, sagte Bonin, der Späher des zwölften Trupps. Er schob sich zwischen Milo und Cuu. »Milo … dein Typ wird verlangt.«

»Ich?«

»Ja, du. Cuu. Geh und beschäftige dich anderswo.«

Cuu feixte und zog ab.

»Nicht gerade heimelig«, schnaufte Hwlan, während er sich umsah. Die Manufaktur war von innen dunkel und leer, und es roch nach vermodertem Holz, Motorenöl und Ozon. Nessa hielt sich hinter ihnen und ließ ihr angelegtes Gewehr hin und her wandern. DaFelbe rückte mit ihr vor und leuchtete mit seiner Taschenlampe in die dunkleren Ecken. Das Dach über ihnen wies Löcher auf, und durch sie konnten sie den flimmernden Schleier des Schildes der Stadt sehen. »Es ist windgeschützt, das ist das Entscheidende«, sagte Alphant. »Ein paar Fassfeuer hier drinnen, und es ist fast schon gemütlich.«

»Vermutlich«, sagte Hwlan.

»Ist es in Ordnung, wenn ich einige der Familien hier reinbringe?«, fragte Alphant Criid.

Sie nickte. »So viele, wie Platz ist.«

In weniger als fünfzehn Minuten wimmelte es in der Manufaktur von Menschen. Die Pilger zogen Habseligkeiten auf Karren und Tragen hinter sich her, und manche wuchteten Uhrenschreine durch die Türen. Feuer wurden angezündet. Die Pilger stimmten eine langsame pastorale Hymne an, während sie sich einrichteten. Alphant war mitten unter ihnen und half ihnen dabei, es sich gemütlich zu machen. Criid beobachtete ihn eine Weile. Der Mann behauptete zwar, kein Anführer zu sein, aber er hatte diese natürliche, beruhigende Ausstrahlung, auf die alle Pilger ansprachen. Aber er war ganz eindeutig mit seinen Gedanken woanders und schaute beständig zur Tür, wenn Neuankömmlinge eintraten. Wen hoffte er im Lager Eisenhalle zu finden?

Criid war einem älteren Mann behilflich, eine Ecke zu finden, wo er sich setzen konnte. Der alte Mann hatte einen Handkarren, der mit primitiv angemalten Gipsbüsten der Heiligen beladen war. Die Büsten waren zweifellos billig und in Massen unter Benutzung einer Fabrikschablone hergestellt worden, und jetzt verkaufte er sie an die Gläubigen, um sich sein Essensgeld zu verdienen. Als Criid ihn und seinen zerlumpten Schlafsack sicher in einer Ecke der Manufaktur untergebracht hatte, drückte er ihr eine in die Hand.

»Nein, ist schon gut.«

»Bitte.«

»Ehrlich, ich habe kein Geld.«

»Nein, nein.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nicht für Geld. Das ist mein Dank für Ihre Höflichkeit.«

»Oh.« Criid betrachtete das Gipsbildnis. Es war abscheulich. Die Farbe war so schlecht und ungeschickt aufgetragen, dass die Heilige Sabbat wie ein Möchtegern-Klanmädchen aus der Vervunmakropole aussah, das gerade Kosmetik entdeckt und diese voller Begeisterung aufgetragen hatte.

»Vielen Dank«, sagte Criid und schob die Gipsfigur in ihre Jackentasche. Es war kein Uniform-Kleidungsstück, sondern eine pelzbesetzte Feldjacke der Shadiks, die sie auf Aexe Cardinal requiriert hatte. Die Insignien hatte sie abgeschnitten. Bisher hatte sie noch niemand zur Rede gestellt, weil sie die Jacke trug, und sie war froh über die Wärme, die sie spendete.

»Möge die Heilige Sie segnen«, sagte der alte Mann.

»Nochmals vielen Dank dafür«, fügte sie hinzu, doch ihre Aufmerksamkeit war schon nicht mehr bei ihm. Sie konnte laute Stimmen im Fabrikeingang hören.

In der Tür hatten DaFelbe und Lubba eine Auseinandersetzung mit einem hochgewachsenen Mann in der schmucken Halbrüstung des hiesigen Militärs.

»… müssen Sie sie eben hier rausschaffen«, hörte sie den Mann sagen, während sie sich dem Trio näherte.

»Gibt es ein Problem?«, fragte sie.

Der Einheimische wandte sich ihr zu. Er trug braunes Kunstleder, und Brust und linker Arm waren in segmentierten Stahl gehüllt. Hinter ihm standen mehr als ein Dutzend herodorische Stadtsoldaten mit kurzläufigen Karabinern.

»Haben Sie hier das Kommando?«, fragte er.

»Sergeant Criid, Erstes Tanith«, antwortete sie glatt. Mit einem Rucken des Kopfes bedeutete sie DaFelbe und Lubba, sich zurückzuziehen. Lubba sah ohne sein Markenzeichen, die Flammenwerfer-Ausrüstung, seltsam nackt aus. Verdammte Stadtverordnungen.

»Hauptmann Lamm, Civitas Beati. Das hier ist unbefugte Nutzung von Privateigentum. Schaffen Sie dieses Gesindel hier raus.«

»Nein«, sagte Criid.

Der Hauptmann fuhr auf. »Nein?«, sagte er.

»Diese Leute«, betonte Criid das Wort, »brauchten Schutz. Dieses Gebäude wird nicht benutzt. Tatsächlich steht es leer. Und die Nutzung ist nicht unbefugt, weil ich sie befugt habe.«

»Wie Eigentum benutzt wird, hat der Stadtrat zu entscheiden. Haben Sie das Schloss aufgebrochen?«

»Nicht persönlich, aber ich übernehme die Verantwortung. Hauptmann Lamm, lassen Sie uns die Angelegenheit nett und freundlich regeln. Es gibt keinen Grund für Unstimmigkeiten. Wir sind auf derselben Seite.«

Lamms Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er nicht ganz einverstanden. Seine Männer traten nervös von einem Fuß auf den anderen.

»Schaffen Sie diese Vagabunden aus diesem Gebäude«, sagte Lamm langsam und bedächtig.

Criid lag eine der erlesensten und vulgärsten Erwiderungen ihres Lebens auf der Zunge, aber ein Geräusch von jenseits der Fabrik unterbrach sie.

Es waren Schüsse. Die ersten Schüsse der Nacht.

Und ihnen folgte rasch das Geschrei.

 

»Sucht euch eine Stellung!«, brüllte Obel. »Sucht euch eine Stellung und haltet sie!« Die Geister des elften Trupps hatten sich in Bewegung gesetzt, als die ersten Schüsse ertönten, aber ihnen kam eine Flut panikerfüllter Pilger aus dem Lagerbereich entgegen. Zwei oder drei Gardisten wurden von der laufenden Menge umgeworfen.

Die ersten Schüsse des Feindes waren nur als Lichtblitze in der Ferne hinter dem Gedränge der Leiber zu sehen gewesen, doch nun waren einzelne Laserstrahlen auszumachen, grell und hart, die über die Köpfe der Menge hinwegfegten. Rot- oder weißglühend wanderten die Schusslinien durch die Düsternis wie Leuchtspurgeschosse. Eine ganze Reihe von ihnen trafen die Lagerhausmauer hinter Obels Standort und sprengten dicke Brocken aus Gips und Ziegeln heraus. Zwei einzelne Schüsse trafen einen Styliten in mittlerer Entfernung und schleuderten den wild rudernden Pilger von seiner Säule. Andere Schüsse schlugen gnadenlos in die verängstigten Massen.

»Ach, Feth!«, fluchte Obel, der mit seinem Signalmann hinter einem Handkarren in Deckung lag. Der Signalmann schrie in sein Kom, um sich verständlich zu machen, während er die Lage beschrieb.

»Irgendwelche Schätzungen?«, brüllte Obel.

»Ich kann nicht das Geringste sehen, Sergeant!«, brüllte Brehenden zurück, der sich durch die Unordnung zu drängen versuchte.

Larkin war es gelungen, einen Hauseingang auf der anderen Seite der Durchgangsstraße zu erreichen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und er beobachtete ein paar Sekunden lang das Lichterschauspiel.

»Mindestens ein Dutzend Schützen. Leichte oder normale Lasergewehre«, rief er, sobald er seiner Sache einigermaßen sicher war. »Aber sie haben auch etwas Schwereres. Eine Autokanone oder vielleicht sogar einen Plasmawerfer.«

Und diese Waffe richtete den meisten Schaden an. Starke Feuerkraft, automatisch, wahllos. Dutzende Pilger waren bereits tot. Das Geschütz hatte so viel Durchschlagskraft, dass es einen weiteren der glücklosen Styliten von dessen Säule holte, indem es sie einfach entzweischoss. Larkin beobachtete zu seinem Erstaunen, dass die anderen Säulensteher nicht versuchten zu fliehen oder abzusteigen. Sie sanken einfach auf ihren labilen Hochsitzen auf die Knie und fingen an zu beten.

»Können Sie das Geschütz ausschalten?«, brüllte Obel.

Larkin studierte das Spiel der Laserstrahlen in der Luft und achtete dabei nur auf die dicken, matten roten. Ungefähr zweihundert Meter weiter nordöstlich.

»Ich kann es versuchen«, sagte er ohne Begeisterung.

Obel bedeutete Jajjo und Unkin nach vorn, um Larkin zu helfen. Jajjo, dunkelhäutig und gut aussehend, war der neue Späher des Elften und der erste Verghastit, der den Sprung zu dieser Elite-Spezialisierung geschafft hatte. Larkin wusste, dass Mkoll große Hoffnungen in Jajjos Fähigkeiten setzte.

»Du bist dran, Larks«, sagte Jajjo. Normalerweise hätte der Späher die Spitze übernommen, aber das war jetzt die Vorstellung des Scharfschützen.

»Links, weiter hinten«, sagte Larkin. Das Trio stemmte sich dem Strom der schreienden Menge entgegen und eilte eine kurze Steintreppe zu einem überdachten Gehweg an der Rückseite eines Fabrikgebäudes herab. Mehrere Dutzend Pilger hatten beschlossen, sich hier zu verstecken, und pressten sich an die Mauern, als die drei Gardisten vorbeiliefen.

Der Gehweg erreichte eine Ecke, wo er sich teilte. Eine Abzweigung führte über eine Steinbrücke in eine Produktionshalle, die andere verlief über eine Holztreppe abwärts zu einer Zufahrtstraße. Pilger überfluteten die Straße unter ihnen. Larkin blieb einen Moment auf der obersten Treppenstufe stehen und neigte den Kopf. Das Geräusch der Schüsse hatte sich relativ zu seinem Standort ein wenig verändert.

»Runter«, sagte er, und die Drei polterten die hölzernen Stufen nach unten und folgten der Straße, während sie sich dicht an die Mauer schmiegten, da die Zivilisten in die andere Richtung an ihnen vorbeiliefen.

Sie erreichten eine Querstraße. Der Strom der Pilger war verebbt. Überall lagen Leiber auf der zerfurchten Straße. Ein Uhrenschrein lag umgestürzt mitten auf der Kreuzung.

Larkin huschte vorwärts und ging hinter dem Uhrenschrein in Deckung. Sofort wurde es hell auf der Straße. Leichtes Laserfeuer, das wie abgeschreckter Stahl zischte, dazu das schwere, das Trommelfell in Schwingungen versetzende Rülpsen der Kanone. Der Überrest des Uhrenschreins erbebte im Laserhagel, und Holz und Plastik flogen durch die Luft. Schüsse bohrten sich auch in den Straßenbelag oder schlugen mit mattem Klatschen in die überall liegenden Leichen.

Larkin behielt den Kopf unten. Der Beschuss, den er auf sich gezogen hatte, war so stark, dass Jajjo und Unkin nicht nachrücken konnten. Sie waren an der Ecke festgenagelt.

Mehrere Strahlen aus der Kanone durchschlugen die verbogene Uhr, die ihm Schutz gab, und verfehlten seinen Kopf nur knapp. Larkin wälzte sich herum und riss das Gewehr an die Schulter. Auf dem Bauch liegend war sein Blickfeld unter dem Karren des Schreins hindurch sehr begrenzt, aber es reichte, um den Gewehrlauf hineinzuschieben und die Schutzklappe vor dem Zielrohr zu öffnen.

Die Straße vor ihm nahm den kalten grünen Schimmer des Nachtzielgeräts an. Er musste die Helligkeit verringern, weil die in seine Richtung fliegenden Laserstrahlen den Kontrastrahmen sprengten.

Besser. Eine heiße Stelle. Sehr heiß. Eine ultraheiße Mündung, etwas Großes. Er schaute noch einmal hin und identifizierte drei Schatten, die in etwa vierzig Metern Entfernung eine schwere Laserkanone auf einem Dreibein hinter einem abgestellten Lastwagen bedienten. Noch mehr heiße Stellen, kleiner, kälter. Männer mit Lasergewehren. Einer in einer Tür, ein anderer hinter einer Reihe Ölfässer, noch einer an eine Mauer geschmiegt. Alle schossen auf ihn.

Er griff nach hinten, öffnete seinen Brotbeutel, entnahm ihm eine Handvoll Magazine und wählte eines mit normaler Ladung aus. Dazu brauchte er nicht hinzusehen, da er die Unterschiede zwischen den Längsstreifen aus Klebeband und den Diagonalstreifen, mit denen er die Magazine gekennzeichnet hatte, ertasten konnte. Er hätte ein Hochenergie-Magazin für maximale Wirkung vorgezogen, aber es gab zu viele Ziele. Ein Hochenergie-Magazin hatte nicht allzu viele Schüsse, und er hatte keine Zeit, zwischen den Treffern ständig das Magazin zu wechseln.

Larkin warf das Hochenergie-Magazin in seiner Waffe aus und ersetzte es durch ein normales. Er vergewisserte sich, dass die grüne »scharf«-Markierung auf dem Zielrohr leuchtete, und suchte dann seine Schussposition. Feth, sie heizten ihm ganz schön ein. Vielleicht noch eine Minute, länger nicht, dann würde der Uhrenschrein auseinanderfallen, und dann konnte er sich ebenso gut nackt und mit einer Zielscheibe im Gesicht und einer Feder im Arsch auf die Straße stellen.

Die Kanone war das offensichtliche erste Ziel, aber im Schutz des Lärms, den sie verursachte, konnte er zuerst die anderen erledigen. Er zielte auf den Schützen in der Tür, wartete, bis er wieder schoss, um ihn in der Dunkelheit richtig auszumachen, und feuerte dann. Wahrscheinlich sah der Feind in dem Durcheinander nicht einmal seinen Mündungsblitz.

Jetzt der an der Mauer. Gut so, schieß weiter. Zeig mir genau, wo du bist …

Das Präzisionsgewehr ruckte. Die Gestalt an der Mauer fiel um.

Dem Schützen bei den Ölfässern ging plötzlich auf, dass seine Kumpel erledigt waren, und er lief zurück in Richtung Kanone. Larkin jagte dem Mann seinen dritten Schuss durch das Rückgrat.

Die Kanone eröffnete jetzt das Feuer auf ihn, anstatt weiter die Straße einzudecken. Keine Zeit, es darauf ankommen zu lassen. Larkin warf das normale Magazin aus und legte ein Hochenergie-Magazin ein. Jeder Treffer der Kanone entwickelte ein Vielfaches der Kraft des Präzisionsgewehrs, selbst mit einem Hochenergie-Magazin, und die Kanone spie fünf Schüsse pro Sekunde aus. Der Uhrenteil des umgestürzten Schreins löste sich auf, und ein Rad wurde vom Karren abgesprengt, halb zerfetzt und mit fliegenden Speichen.

»Ja, ja«, sagte Larkin und schoss.

Der Hochenergieschuss verursachte ein heulendes Zischen, und der Schaft des Gewehrs schlug gegen den beständigen Bluterguss in Larkins rechter Schulter. Es schmerzte. Das tat es immer. Er mochte den Schmerz, weil er ihn immer mit einem tödlichen Schuss assoziierte.

Der Kopf des Schützen löste sich auf, und der Leichnam kippte nach vorn über die Kanone. Jähe Stille. Larkin sah, wie sich die beiden Kameraden des Schützen bemühten, ihn beiseite zu ziehen, während der tanithische Scharfschütze ein neues Magazin einlegte.

Munitionsbatterie für die Kanone, einen Meter links vom Dreibein, mit Zuleitung …

Ein Schlag vor die Schulter.

Die Batterie explodierte mit der Gewalt mehrerer Granaten und schleuderte die Kanone samt Dreibein zusammen mit den drei Gestalten in einer grellen Sonne aus Feuer wie bei einer Ballettaufführung hoch in die Luft.

Das Dreibein hüpfte zweimal und erzeugte dabei ein hartes, metallisches Klirren. Die Leichen hüpften nicht.

»Klar!«, brüllte Larkin, während er nachlud und aufsprang. Jajjo und Unkin verließen ihre Deckung und liefen an ihm vorbei, wobei sie die Straße mit halb automatischen Feuerstößen eindeckten. Larkin rannte ihnen nach und hielt sich dabei dicht an der Mauer.

»Feth, Larks!«, sagte Unkin, der das Werk des Scharfschützen begutachtete, während er hinter der nächsten Ecke Deckung nahm, nicht weit von der Stelle entfernt, wo die Zerstörung der Kanone einen brennenden Krater in der Straße hinterlassen hatte. »Du machst keine halben Sachen!«

»Klopf ihm später auf die Schulter«, sagte Jajjo. Er kauerte hinter dem Lastwagen und hatte damit begonnen, in die Straße zur Linken zu schießen.

Mehr Angreifer stürmten auf sie ein. Viele. Und Jajjo erkannte ihre blutroten Uniformen sofort.

 

Blutpakt. Also stimmt es, dachte Tona Criid. Wenigstens bis zu einem gewissen Punkt. Die »ketzerischen Dissidenten«, die Beatistadt angriffen, waren tatsächlich ausgebildete und erfahrene Infanterie aus den Elite-Feldkorps des Erzfeinds. Was Corbecs Einweisung ausgelassen hatte, war der Maßstab. Dies war kein Geplänkel mehr. Dies war ein ausgewachsener Sturmangriff.

Der Feind strömte aus der Wüste mit Macht in den Glaswerke-Sektor, massiv unterstützt von schweren Infanteriewaffen und tragbaren Schilden. Ihrer eigenen Schätzung nach waren bereits in der Anfangsphase mindestens fünfzig Pilger niedergemetzelt worden, die zwischen das rücksichtslose Lasergewitter der Angreifer und die buchstäblich hilflosen Imperialen geraten waren. Jetzt waren die Pilger größtenteils irgendwo in Deckung geflohen oder in Massen weiter in die Innenstadt gerannt, und die Schlacht hatte begonnen, ein brutaler Straßenkampf, der sich durch die Obsidae und die Lager bis in die Manufakturen der Zone erstreckte. Criids Trupp hielt mit Domors Unterstützung ein drei Blocks umfassendes Gebiet, während Obels Einheit nicht weit im Westen von ihnen kämpfte. Nach fünfzehn Minuten rückten von Osten weitere drei Trupps und eine Kolonne einheimischer Soldaten, die von Hauptmann Lamm über Kom angefordert worden waren, zu ihrer Unterstützung nach.

Es war brutal, brutaler als alles, was sie je erlebt hatte, und das wollte etwas heißen. Es erinnerte sie an den Straßenkrieg, in den sie in der Vervunmakropole verwickelt worden war, aber dort waren die gut ausgerüsteten, aber drohnenartigen Zoicaner der Feind gewesen. Der Blutpakt war etwas ganz anderes. Er wusste, wie man in den Straßen kämpfte. Seine Krieger waren so gut wie die Geister und disziplinierter als jede Chaos-Einheit, der sie bisher begegnet war. Es war sogar schlimmer als der Grabenkrieg auf Aexe Cardinal, den sie erst kürzlich hinter sich gelassen hatten. Damals hatte sie geglaubt, der Grabenkrieg habe die Messlatte für schlimme Kämpfe unerreichbar hoch gelegt. Eingesperrt – wie Ratten und mit Ratten – in schmalen, dreckigen Unterständen und manchmal im direkten Nahkampf.

Aber dies war ein verdammter Albtraum. Glaswerke war zu offen, zu gewunden. Jede Ecke und Biegung in der Straße, jede Gasse, jeder Laufgang war eine Todesfalle. In einem Graben wusste man wenigstens, dass der Feind vor einem war.

Lachend gab sie einen Feuerstoß ab, der einen Blutpakt-Soldaten rückwärts durch einen Torbogen schleuderte. Zwei weitere tauchten auf, die sie ebenfalls fällte.

»Was, bei Feth, ist so lustig?«, rief Lubba ihr zu, der mit seinem brandneuen Lasergewehr schoss, was das Zeug hielt. Es schien zu klein für seine fleischigen, tätowierten Hände zu sein. Sie wusste, dass er seinen Flammenwerfer extrem vermisste. Gak, aber wie nützlich wäre ein Flammenwerfer im Augenblick gewesen?

»Ich habe mich dabei ertappt, dass ich mich nach den Gräben zurücksehne«, sagte sie, während sie ein neues Magazin in ihre Waffe rammte. »Das kam mir unglaublich lustig vor.«

»Links! Links!«, brüllte Subeno plötzlich.

Ein Laserhagel zischte durch eine Seitenstraße, und Criid und Lubba hechteten in Deckung. Domor rannte mit Nehn, Bonin und Milo an ihnen vorbei. Sie begegneten der neuen Angriffsrichtung mit massivem Schnellfeuer. Noch mehr Geister, von Chiria und Ezlan angeführt, stießen durch die Lücke und drängten die Angreifer weiter die Straße zurück. Einer der Geister zuckte zusammen und fiel. Criid konnte nicht erkennen, wer es war. Aber sie sah, dass er tot war.

Lamms Männer hielten die Querstraße. Alle paar Sekunden hörte Criid das zischende Tosen seines erlaubten Flammenwerfers. Hinter ihnen, im nächsten Häuserblock, waren Soldaten der Planetaren Streitkräfte Herodors in einer Reihe von Wellblechschuppen in tödliche Kämpfe mit dem Feind verwickelt.

»Wie sieht es hinter uns aus?«, rief sie Lubba zu. Er war mit Mörtelstaub bedeckt und sah aus, als habe er sich in Mehl gewälzt.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, erwiderte er.

Sie sprang auf und lief durch die schmale Straße zurück und an den Leichen der niedergemetzelten Pilger vorbei. DaFelbe hatte mit neun Geistern eine gute Stellung bezogen und deckte das hintere Ende der Straße, geriet aber unter zunehmend heftigeren Beschuss. Sie sah, wie Posetine und Vulli Mkhef aus der vordersten Linie nach hinten zogen. Er war in Hals und Brust getroffen worden. Sie bezweifelte, dass er den Sonnenaufgang erleben würde.

Sie bog um die Ecke und stieß beinahe mit Hauptmann Daur zusammen, der mit seinem Trupp durch den Rauch gelaufen kam.

»Meldung!«, überschrie er den Lärm.

Criid gestikulierte vage in keine bestimmte Richtung. »Sie sind praktisch überall!«, begann sie. »Gehen Sie zurück!«

»Deckung!«, brüllte er, und sein Trupp rannte zu den Eingängen und zerschmetterten Fenstern des Schuppens gegenüber.

Criid rannte in die andere Richtung, in eine mit Schutt übersäte Gasse und direkt in drei Blutpakt-Soldaten, die ihr entgegenkamen.

Criid schrie auf und fiel. Ein Laserstrahl hatte ihr die Kopfhaut versengt.

Sie verlor beinahe das Bewusstsein. Sie lag mit dem Gesicht nach unten im Schutt, konnte nichts sehen, sich nicht bewegen …

Etwas sprang hinter dem Blutpakt vom Dach. Ein einzelner Geist, eine Laserpistole in der einen und ehrliches Silber in der anderen Hand. Zwei Sekunden später waren alle drei feindlichen Soldaten tot, zwei aus nächster Nähe erschossen, der Dritte aufgeschlitzt.

Schwer atmend ließ Lijah Cuu die Hände sinken. Er troff von Blut. Er ging zu Criid und ließ sich neben ihr in die Hocke. Gestalten liefen am Ende der Gasse vorbei. Schüsse zischten und jaulten.

Er schob seine Laserpistole ins Halfter und wechselte den Griff um das Heft seines Kampfmessers, sodass die Spitze aus seiner blutigen Faust nach unten ragte. Dann drückte er die Spitze sanft in den Halsansatz. Ein dunkler Blutstropfen quoll an der scharfen Spitze empor.

Mit der anderen Hand strich er ihr über die blutverklebten Haare und dann mit einem schmutzigen Finger über die entblößte Wange.

»So sicher wie sicher«, murmelte er heiser. Er hob die Klinge, um sie herabsausen zu lassen.

Eine große Hand schloss sich um das sich hebende Gelenk und hielt es fest. Cuu keuchte vor Schmerzen und schaute nach oben.

»Du sollst keinem wehtun«, sagte Kolea.

»Lass mich los!«, sagte Cuu.

»Du sollst keinem wehtun, Lijah Cuu«, wiederholte Kolea und erhob sich.

Cuu war gezwungen, sich mit ihm zu erheben, da sein Handgelenk in Koleas ungeheuer festem Griff klemmte wie in einem Schraubstock.

»Ich hab doch nur versucht, ihr zu helfen! Sie braucht Hilfe! Sieh sie dir doch an!«, kreischte Cuu. »Ihre Gasmaske hat sich um ihren Hals gewickelt! Sieh doch! Sieh hin, Gak! Ich wollte sie wegschneiden!«

»Du gehst weg«, sagte Kolea. »Geh jetzt weg.«

Er ließ Cuus Handgelenk los. Cuu wich zurück und starrte Kolea an. Kolea erwiderte den Blick, gelassen.

»Dann hilf du ihr doch«, sagte Cuu, »du dämlicher Gakschädel.« Er hob das Kampfmesser, wischte sich das Blut am Hosenbein ab und schob es in die Scheide.

»Geh weg!«, sagte Kolea.

Cuu verschwand in der Dunkelheit.

Kolea bückte sich, wälzte Criid herum und nahm ihr die beengende Gasmaske ab. Dann hob er sie auf und marschierte los.

Weiter die Straße entlang sah Lubba ihn kommen, und er spürte, wie ihm das Herz in der Brust gefror. Zwei Jahre zuvor, auf Phantine, hatte er genau dasselbe gesehen. Kolea hatte die verwundete Criid in Sicherheit getragen. Sekunden später war Kolea getroffen worden, und danach war der Mann, den alle kannten und liebten, einfach verschwunden.

Lubba sprang auf, bevor es wieder passieren konnte, und zog Kolea in Deckung. »Sanitäter!«, rief er. »Sanitäter, sofort hierher!«

 

Zwei Straßen weiter fielen Mörsergranaten auf die Schuppen und Fabrikhallen. Sengende Flammen loderten aus Türen und Fenstern, verspritzten Glassplitter und ließen die Erde erbeben. Ein Dach stürzte ein. Zwei lange Montagehallen brannten lichterloh.

Milo kauerte in der Ecke einer halb eingestürzten Mauer. Seine Ohren klingelten vom Überdruck. Blut aus einer Splitterwunde lief ihm über die Wange. Bonin lag neben ihm und versuchte, sich einen silbernen Glassplitter aus der Handfläche zu ziehen.

»Na, das ist doch mal richtig nett«, sagte er über das Donnern der Explosionen hinweg.

»Stimmt«, antwortete Milo. Die Explosionen hatten ihn durchgeschüttelt, und er war ein wenig benommen, aber davon abgesehen hatte er ein ganz komisches Gefühl. Wie …

Wie auf Hagia.

Er hatte nicht herausgefunden, wer was von ihm gewollt hatte.

»Passt auf!«, zischte Bonin plötzlich, während er sich herumwälzte und das Lasergewehr hochriss. Er gab ein paar Schüsse ab, und Milo leistete ihm bei seinen Bemühungen Gesellschaft. Rot gekleidete Gestalten waren soeben aus den ausgebombten Gebäuden vor ihnen aufgetaucht.

Sie schossen mit Bedacht und Präzision. Bonin, ein äußerst fähiger Späher, war von Mkoll ausgebildet worden und wusste, wie man schoss und wie man auf einen Schuss wartete. Milo hatte das Kriegshandwerk aus einer Vielzahl Quellen gelernt … Oberst Corbec, Gaunt persönlich und vor allem Hlaine Larkin. Milo suchte sich seine Ziele mit dem Sachverstand eines Jägers aus.

Zusammen erschossen sie neun Angreifer des Blutpakts, als diese aus den Ruinen eilten, um sich weiter die Straße vorzuarbeiten.

Sie blieben noch ein paar Minuten zwischen den Trümmern, und als die Mörser wieder zu schießen anfingen, zogen sie sich wieder in Richtung Hauptstreitmacht zurück.

»Helft mir!«, rief jemand. Flammen umloderten die Häuser in der Nähe und schleuderten Funken in Richtung des flackernden Schildes.

Milo fing an zu rennen. Bonin blieb neben ihm. Sie sahen einen Mann, einen gut gebauten Mann nicht mehr ganz mittleren Alters in den Gewändern eines Infardi-Pilgers. Er versuchte, einen alten Mann aus einer brennenden Manufaktur zu ziehen.

»Da drinnen sind noch mehr!«, schrie Alphant die beiden Geister an, als sie ihn erreichten. »Bei der Heiligen, das ganze Gebäude steht in Flammen!«

Der verlassene Fabrikschuppen, den Criid erst vor einer Weile für Alphants Gläubige geöffnet hatte, brannte jetzt lichterloh. Viele von den Leuten darin waren zu alt oder gebrechlich, um sich selbst retten zu können. Oder Kinder, hilflos, verloren und verängstigt.

Milo und Bonin gingen mit Alphant hinein und scheuchten die schreienden Kinder nach draußen. Dachbalken krachten Funken sprühend auf den Boden. Bonin und Alphant schnappten sich eine alte Frau in einem Tragesitz und schleppten sie ins Freie, wo sie die Flammen ausklopften, die auf ihr Kleid übergegriffen hatten.

Milo hob zwei kleine Kinder auf und rannte mit ihnen nach draußen in die Nachtluft.

Dort wurden sie von einem Hagel aus Laserstrahlen und festen Kugeln empfangen. Der Blutpakt hatte sie eingeholt. Die alte Frau, die Bonin und Alphant getragen hatten, starb in ihrem Sitz. Milo konnte es nicht über sich bringen, die anderen Opfer anzusehen.

Er und Bonin rissen ihr Lasergewehr von der Schulter und erwiderten das Feuer, wobei sie das Mauerwerk einer eingestürzten Ladenfassade als Barrikade benutzten.

»Geben Sie mir was! Irgendwas!«, rief Alphant aus der Deckung eines Eingangs. Kinder hatten sich um ihn geschart.

»Wissen Sie, wie man damit umgeht?«, rief Milo zurück.

»Ich war in der Garde! Ich weiß es!«

Milo zog seine Laserpistole und warf sie Alphant zu. Dann ließ er ein paar Reservemagazine aus seinem Brotbeutel folgen. Die Drei fingen an zu schießen.

Während er sich immer wieder aus dem Eingang duckte, um ein paar Schüsse abzugeben, sah Alphant plötzlich das Mädchen, Sabbatine. Er hatte die ganze Nacht nach ihr gesucht … tatsächlich seit ihrer Begegnung im Lager Eisenhalle. Das Mädchen hatte etwas an sich, etwas Bemerkenswertes, etwas, das ihn dazu getrieben hatte, es zu suchen.

Das Mädchen, eigentlich eine junge Frau, kam aus einem Töpfereigeschäft weiter die Straße entlang und trieb eine Schar Kinder aus einem Block vor sich her, der in Flammen stand. Sie liefen in einer Reihe und hielten sich dabei an den Händen. Sie sahen aus wie eine Schola-Klasse auf einem Ausflug.

»Zurück! Geht zurück!«, rief Alphant ihnen zu.

Die junge Frau drehte sich um, sah ihn und lief mit den Kindern in die Richtung, wo Alphant und die beiden Geister Deckung gefunden hatten.

»Um Feths willen!«, rief Milo, der sie kommen sah. Laserstrahlen umzuckten die Köpfe der kleinen Prozession. Wie konnten sie die Kinder verfehlen? Warum waren sie noch nicht tot?

Bonin und Milo erhoben sich ein wenig und bemühten sich, ihnen Feuerschutz zu geben, dann zogen sie die jammernden Kinder hinter die Barrikade, als sie sie erreicht hatten.

»Vorwärts!«, rief Alphant der jungen Frau zu. Sie schien keine Anstrengungen zu unternehmen, sich zu ducken oder Deckung zu suchen. Er setzte sein eigenes Leben aufs Spiel und rannte aus seiner Deckung, um sie und das letzte Kind zu packen. Ein Schuss streifte seinen Oberschenkel. Irgendwie hielt ihn die schmächtige junge Frau aufrecht, bis sie wieder in Deckung waren.

»Ich habe dich gesucht«, sagte er.

Sabbatine lächelte. »Ich weiß.«

Milo forderte die schluchzenden Kinder auf, tief geduckt zu bleiben, und bemühte sich, es wie ein Spiel aussehen zu lassen. Dann kroch er zu Alphant und dem Mädchen.

»Das war sehr tapfer von dir«, sagte er zu der jungen Frau. Sie sah ihn an, und Milo war sprachlos. Er hatte sie noch nie zuvor in seinem ganzen Leben gesehen, aber er kannte sie. Als habe er sie schon immer gekannt.

Milo schüttelte den Kopf, um sich von allen ablenkenden Gedanken zu befreien. »Wir müssen die Kinder von hier wegschaffen«, sagte er. »Bonin?«

»Unmöglich!«, rief Bonin, der zwischen den kauernden Kindern und anderen Pilgern hockte. »Das Feuer hat das andere Straßenende erreicht. Da kommen wir nicht durch.«

Milo kroch vorwärts und riskierte einen Blick auf die Straße vor ihnen. Funken stoben, und Rauchwolken trieben über die Trümmer der Zufahrt. Darin sah er die Umrisse von Männern, Männern mit Gewehren und beängstigenden Eisenmasken. Alle paar Sekunden hoben ein paar von ihnen die Waffen und schossen in ihre Richtung. Viel zu viele, um sie zu dritt zurückschlagen zu können.

Dann wurde sogar das akademisch. Die vorrückende Blutpakt-Infanterie wich an die Seiten der in Trümmer liegenden Straße aus. Etwas näherte sich ihnen von hinten.

»Ach, Feth …«, ächzte Milo, als der Kampfpanzer, blutrot bemalt und mit abscheulichen Symbolen besudelt, in sein Blickfeld rollte.

 

»Das ist kein angemessener Zeitpunkt für eine Audienz«, sagte der Stabsoffizier der Civitas Beati. »Die Stadt wird angegriffen.«

»Tatsächlich? Dann stellen Sie doch eine Liste angemessenerer Zeitpunkte zusammen!«, fauchte Zweil. Mit seiner schweren Kampfuniform und den polierten Rüstungssegmenten überragte der Soldat den betagten Ayatani um einiges, und im Kerzenschein des Atriums war es unmöglich, den Ausdruck auf seinem harten Gesicht zu erkennen. Hinter ihm waren in die massiven Bronzetüren der Zentralkirche der Ekklesiarchie der Stadt, die sich dicht unterhalb der Spitze des Makropolturms eins befand, Bilder von Kiodrus eingraviert, der die Schale für die Heilige hielt, die gerade dabei war, ihre Wunden zu waschen. Die Türen waren fest verschlossen.

»Vater, bitte«, begann der Stabsoffizier.

»Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um sie zu sehen«, sagte Zweil zu ihm.

»Das haben viele.«

Zweil rang verzweifelt die knochigen Hände. »Wissen Sie, wer ich bin?«

»Sie sind Imhava-Ayatani Zweil, und nur ein alter Schurke wie Sie würde es für angebracht halten, so ein Spektakel zu veranstalten.«

Die Stimme erklang hinter ihm. Zweil drehte sich um und sah sich einem anderen alten Mann in priesterlichen Gewändern gegenüber.

»Kilosh«, sagte er mit einer Verbeugung, die Kilosh erwiderte. »Für einen Tempel-Ayatani sind Sie weit weg von zu Hause, Bruder«, sagte Zweil.

»Die Umstände unserer Hingabe ändern sich, Bruder.« Kilosh lächelte. »Es ist überraschend schön, Sie wiederzusehen, Sie streitsüchtiger alter Unruhestifter.«

»Gleichfalls, obwohl Sie mir so steif und zugeknöpft wie eh und je vorkommen. Ich muss sie sehen, Bruder.«

»Das ist für jeden in Rufweite offenkundig. Ich werde sehen, was sich machen lässt, aber …«

»Aber was?«, brummte Zweil finster.

»Wir haben alle schon genug Ärger heute Nacht. Ich will nicht, dass Sie noch mehr verursachen.«

Zweil zog Kilosh auf die Seite und senkte die Stimme. »Ich weiß, was Sie denken. Ich stehe nicht nur in einem nicht gerade unverdorbenen Ruf, ich bin auch schon länger mit diesen tanithischen Heiden zusammen, als möglicherweise gut für mich ist.«

»Bruder, ich betrachte Gaunt und seine Männer nicht als Heiden.«

Zweil stutzte. »Ich auch nicht. Aber Sie befürchten, ich könnte da reingehen und sie öffentlich und vor allen Leuten anprangern. Nicht an sie glauben, wie Gaunt nicht an sie glaubt.«

»Sein Mangel an Glauben schmerzt mich in der Tat, Bruder.«

»Nicht halb so sehr wie mich. Er ist ein guter Mann und ehrlich, und ich habe mich seinem Regiment angeschlossen, weil er der Heiligen wirklich treu ergeben zu sein schien. Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, dass sein Glauben so erschüttert wurde, aber es macht mich sehr traurig.«

Kilosh nickte. »Also sind Sie nicht als sein Abgesandter gekommen, um die falsche Heilige zu demaskieren?«

»Ganz im Gegenteil, Bruder. Ich brauche eine Audienz, damit ich zurückkehren und ihn von der Wahrheit überzeugen kann. Ihm die Augen öffnen kann. Ihn zum Glauben bewegen kann.«

»Sie haben selbst keine Zweifel?«

Zweil schüttelte den Kopf. »Es hat genug Omen und Vorzeichen gegeben, tatsächlich so viele, dass es zu einem Massen-Exodus der Pilger gekommen und dieser Teil des Imperiums vollkommen auf den Kopf gestellt wurde. In einem Dutzend Tempeln auf einem Dutzend Welten wurde geweissagt, sehr nachdrücklich, dass die Heilige wiedergeboren und hierher nach Herodor kommen werde. Die Beweise sind unwiderlegbar. Ich glaube, sie ist hier. Ich glaube, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Gaunt ebenfalls zum Glauben zu bewegen. Denn ohne seinen Glauben sind wir zum Untergang verurteilt.«

Kilosh betrachtete Zweils Gesicht einen langen Moment, dann bedeutete er ihm zu folgen.

Die Angehörigen des Regiments Civitas Beati öffneten die Bronzetüren, und die beiden alten Priester schlurften in den ausgedehnten Altarraum der großen Kirche. Die Marmorwände und Säulen waren vergoldet, und in die Steinfassaden waren Obsidian-Mosaike eingearbeitet. Uhrenschreine stapelten sich im Eingang zusammen mit gletscherartigen Haufen von Islumbine-Girlanden. Eine massive Adlerskulptur aus schwarzem Eisen, dreißig Meter von Flügelspitze zu Flügelspitze messend, hing unter dem Kuppeldach. Die tiefen Bankreihen, die in einem Halbkreis angeordnet waren, bestanden aus dunklem, poliertem Holz, und auf dem Hochaltar brannten in Haltern aus schillerndem Chelonpanzer Kerzen. Der Altar selbst war ein großes rechteckiges Steinbecken, das mit heiligem Wasser aus dem Balnearium gefüllt war. Das Wasser war vollkommen unbewegt und sah aus wie ein brauner Spiegel.

Zweil kniete mit Blick auf den Altar nieder und verbrachte einen Moment in stiller Andacht. Dann half Kilosh ihm wieder auf die Beine und führte ihn zur innersten Kapelle. Esholi-Dienstmädchen in violetter Alba und mit weißem, halbmondförmigem Kopfputz warteten vor dem vergoldeten Schirm der Ikonostase. Kilosh öffnete die alte Schirmtür, und das Paar stieg die wenigen, abgenutzten Stufen zur winzigen Krypta herab.

Darin war es dunkel bis auf den Schein einiger Phosphalampen und einem schwachen Lichtstrahl, in dem sich das Schillern des Schildes über der Stadt widerspiegelte und der von außen durch einen schmalen Schlitz hoch oben in der Wand über dem simplen Schreinaltar einfiel. Eine Frau kniete dort im Gebet und in den Lichtstrahl gehüllt.

Sie hörte sie kommen, erhob sich und drehte sich um. Sie trug ein langes blaues Gewand und eine weiße Stola, und ihre glänzenden schwarzen Haare waren aus dem Gesicht gekämmt und hinten zusammengebunden. Kilosh verbeugte sich sofort. Zweil starrte sie an, unfähig, sich auszudrücken. Er spürte sein Herz klopfen, als wolle es bersten, als lasse ihn sein uralter Körper gerade jetzt im Stich, wo er so weit gekommen war.

»Ayatani Zweil«, sagte die Heilige mit einer Stimme wie Seide. Islumbine. Er konnte Islumbine riechen.

Er keuchte und fiel auf die Knie. Kein Wort kam ihm über die Lippen.

»Ich …«

»Schhhh, ergebener Vater«, sagte sie und streckte die Hand aus. Er nahm sie zwischen seine beiden.

Etwas kribbelte durch seine Haut wie ein elektrischer Schlag. Wie Nadeln. Er ließ die Hand abrupt los und schaute verwirrt zu ihr auf.

»Sanian …«, sagte er.

Ihr Lächeln hatte sich nicht verändert. »Sie kennen das Gefäß, in dem ich stecke, Ayatani Zweil. Sie kennen es, aber …«

»Nein!«, sagte er, indem er sich mühsam erhob. Er blinzelte stark, als bemühe er sich, nicht zu weinen. »Ach, Gott-Imperator, er hatte recht. Du bist Sanian …«

Sie wich vor ihm zurück. Kilosh erhob sich mit einem Grunzen der Anstrengung. »Der Imperator verdamme Sie, Zweil!«, zischte er. »Sie haben gesagt, Sie würden das nicht tun! Sie haben mich getäuscht!«

»Nein, nein …«, sagte Zweil, der sie immer noch anstarrte. »Was ich gesagt habe, meinte ich auch so, Kilosh, von ganzem Herzen. Aber jetzt erkenne ich die Wahrheit. Es ist nicht die Wahrheit, die ich sehen wollte, aber es ist nichtsdestoweniger die Wahrheit.«

Kilosh zupfte wütend an Zweils Ärmel, um ihn zurückzuziehen. Der Imhava-Ayatani stieß ihn weg. »Die Heilige ist hier. Ich spüre sie in jedem Stein und in jedem Luftzug. Aber das hier ist sie nicht!«

 

Der Panzer schoss noch einmal und begrub eine Granate in der Fassade der brennenden Manufaktur hinter ihnen. Glas und Gestein wurden in die Luft geschleudert. Die Kinder und die Pilger schrien.

»Granaten!«, rief Bonin.

»Du kommst niemals nah genug heran!«, brüllte Milo zurück, während er seinen Kopf vor dem fallenden Trümmerregen schützte. Er huschte zu Bonin und drückte ihm die Granaten aus seinem Tornister in die Hand. »Nur, wenn er abgelenkt wird! Bei drei!«

Die nächste Granate heulte über sie hinweg. Der Panzer war jetzt noch zwanzig Meter entfernt. Der fest darauf montierte Karabiner fing an zu knattern und beharkte die Trümmerbarrikade.

Die beiden Geister rannten mit gesenktem Kopf in entgegengesetzte Richtungen los. Bonin rannte die linke Straßenseite entlang, dicht an der Häuserwand, während er die Granaten mit Klebeband zusammenzuheften versuchte. Milo rannte nach rechts, warf sich in einen Hauseingang und wälzte sich dann herum. Durch den Rauch sah er, wie Alphant und die anderen erwachsenen Pilger versuchten, die Kinder in die wenige noch verbliebene Deckung zu zwängen.

»Fertig?«, knisterte Bonins Stimme in Milos Helmkom.

»Los!«, sagte Milo. Er lehnte sich aus seiner Deckung und gab Dauerfeuer mit seinem Lasergewehr. Die Schüsse prallten vom ramponierten Metallrumpf des Panzers ab, der abrupt anhielt, und dann wurde der Karabiner zu ihm herumgeschwenkt.

Er konnte sich gerade noch rechtzeitig zu Boden werfen. Die großkalibrigen Kugeln des Geschützes zerlegten Wand und Tür hinter seiner zusammengekrümmt daliegenden Gestalt in ihre Bestandteile. Es reichte nicht. Er hatte ihn nicht so lange abgelenkt, dass Bonin in seine Nähe kommen konnte.

Milo fing wieder an zu kriechen, als mehr jaulende Karabinerkugeln über ihn hinwegfegten. Wenn er doch nur …

Er hörte Alphant etwas rufen und sah auf.

Das Mädchen rannte aus seiner Deckung. Rannte mitten auf die vom Krieg verheerte Straße und direkt vor den Panzer.

»Feth, nein!«, schrie Milo. Er sprang auf und rannte ihr nach.

Sie stand direkt vor dem Panzer, beide Hände erhoben wie ein Beamter der Arbites beim Regeln des Verkehrs. Der Panzer blieb stehen, als sei er verwirrt. Der Hauptgeschützturm drehte sich, und der Kanonenlauf senkte sich wie das Stielauge eines Zyklopen, um sie anzustarren.

Bonin tauchte aus der Rauchwolke neben dem Panzer auf und warf die Granaten. Sie holperten über den hinteren Teil des Rumpfes und blieben unter dem Rand der achteren Abdeckhaube des Geschützturms liegen.

Milo warf sich vorwärts und riss das Mädchen in dem Augenblick mit sich zu Boden, als das Geschütz des Panzers feuerte.

Und die Granaten explodierten.

 

In diesem Augenblick fiel Hauptmann Ban Daur, der sich mit seinem Trupp gerade auf einem Verbindungsweg zwischen zwei Fabrikhallen zum Eisenhalle-Sektor befand, so jäh und so schwer zu Boden, dass die Soldaten rings um ihn glaubten, er sei getroffen worden.

»Hauptmann!«, rief Brennan, der zu ihm gelaufen kam. Ein paar funkelnde Laserstrahlen von den Angreifern auf der Böschung zuckten vorbei wie Glühwürmchen. Soldat Solia rief nach einem Sanitäter.

»Ich bin wohlauf«, sagte Daur. Seine Zähne klapperten, als friere er. »Ich meine, ich bin nicht getroffen.«

»Warum sind Sie gefallen, Hauptmann?«, fragte Solia, deren dreckverschmiertes Gesicht grimmige Besorgnis verriet.

»Ich hatte gerade … ein unsagbar schreckliches Gefühl«, sagte Daur und lachte dann verlegen, als ihm aufging, wie albern das klang.

Sein Gesichtsausdruck war ganz und gar nicht albern.

In der stinkenden, wiederaufbereiteten Luft hinten auf dem Transporter trat Curth seufzend einen Schritt von dem herodorischen Soldaten zurück, den sie versucht hatte zusammenzuflicken. Viele weitere Verletzte, die meisten davon Infardi, hatten sich um die Eingangsrampe des schweren Fahrzeugs versammelt. Ab und zu vibrierte das Vehikel, wenn in der Nähe Granaten einschlugen und der Boden bebte.

Curth hörte ein Klirren und fuhr herum. Oberstabsarzt Dorden, der an einer Bahre neben ihr arbeitete, hatte soeben ein ganzes Tablett mit chirurgischen Instrumenten umgeworfen.

»Dorden?«

Er schwankte. Das Gesicht hinter seiner Plastikmaske war grau und sah krank aus.

»Dorden!«, rief Curth und eilte zu ihm.

»Ana? Was ist gerade passiert?«

»Passiert? Was meinen Sie?«

»Haben Sie den Blitz nicht gesehen? Er war so hell …«

»Nein … nicht mehr als der Beschuss, der auf uns niedergeht.«

»So hell …«, flüsterte er.

 

Die tanithischen Verstärkungen sprangen in dem Augenblick aus ihren Transportern, als die Kolonne der Lastwagen anhielt. Sie hatten eine Kreuzung auf Prinzipal I erreicht, wo die Südgrenze der Sektoren Eisenhalle und Glaswerke begannen. Leichte Panzer und Selbstfahrlafetten des Regiments Civitas Beati ratterten vorbei. Hinzu kamen Salamander und leichte Geschützplattformen aus Lugos gelandeter Streitmacht.

Gaunt überprüfte das Magazin seiner Boltpistole und ging an einem der stehenden Truppentransporter vorbei und zu Corbec, der gerade den Truppführern Anweisungen gab.

»Ich weiß, dass diese Schätzchen hier eine schöne, dicke Panzerung haben«, sagte Corbec gerade, während er mit der Hand gegen den Transporter klopfte, »aber sie bieten auch ein schönes, großes Ziel. Wir haben Straßenkämpfe vor uns, und da sind Sie zu Fuß nützlicher – und sicherer. Also, fertig machen zum Abmarsch, truppweise.«

Er wandte sich an Gaunt. »Wollten Sie noch etwas hinzufügen, Herr Kommissar?«

Gaunt wollte gerade antworten, als Corbec sich plötzlich an den Kopf fasste und schwankte.

»Oberst?«

»O mein Gott-Imperator …«, sagte Corbec, während er Gaunt in die Augen sah. »Haben Sie das gerade nicht gespürt? Haben Sie das gerade nicht gespürt?«

 

»Ayatani Zweil! Ayatani Zweil, ziehen Sie sich sofort zurück!«, schrie Kilosh ihn an.

»Verstehen Sie denn nicht, Kilosh? Können Sie sich nicht aus Ihrer Steifheit lösen und es sehen?« Zweil zeigte durch die Kapelle auf die Heilige, die ihn mit vorwurfsvollem Schweigen beobachtete.

»Ich lasse die Tempelwachen rufen und Sie hinauswerfen, wenn Sie nicht aufhören und endlich gehen!«, tobte Kilosh.

Zweil, dessen Kopf pulsierte, wollte gerade antworten, als er plötzlich einen rauchigen, rostigen Geschmack im Mund hatte.

Er sah Kilosh an und hustete. Blut spritzte auf seine erhobene Hand.

»Zweil? Was ist los mit Ihnen?«

Ach du lieber Gott-Imperator, dachte Zweil. Jetzt ist es so weit. Ich habe einen Schlaganfall und …

Und mehr dachte er nicht. Er kippte lautlos nach vorne und schlug mit dem Kopf auf den Steinboden.

»Zweil?«, sagte Kilosh, der mehr verblüfft war als alles andere. Er kauerte sich neben seinen älteren Kollegen, tastete nach einem Puls und wollte Hilfe herbeirufen, doch plötzlich ertönte ein Kreischen hinter ihm.

Als er herumfuhr, sah er, dass die Heilige auf die Knie gefallen war. Im Licht der Phosphalampen sah ihr Gesichtsausdruck verängstigt und entsetzt aus. Ihre zitternden Hände tasteten nach dem Blut, das ihr aus der Nase lief.

»Hilfe!«, schrie Kilosh aus vollem Halse. »Helft mir hier unten!«

 

Von dem Panzer war nur noch ein Haufen geschwärzter Metallfetzen übrig. Dichte blaue Rauchwolken erfüllten die schmale Straße und erschwerten das Atmen. Bonin hustete und würgte, als er zurücklief. In seinen Ohren klingelte es immer noch.

»Milo! Milo!«

Milo lag mit dem Gesicht nach unten in einem Graben und war mit Asche und Gesteinstrümmern bedeckt. Bonin erreichte ihn zugleich mit Alphant. Milo kam zu sich, als sie ihn herumwälzten. Er war wunderbarerweise am Leben und unverletzt.

Aber das Mädchen, das nicht weit entfernt zusammengekrümmt an der geborstenen Bordsteinkante lag, war es nicht. Die Explosion der Panzergranate, die unter ihnen beiden den Boden aufgewühlt und sie in die Luft geschleudert hatte, war ihr nicht gut bekommen. Ihr Genick war gebrochen, und sie war tot.

Alphant stieß einen Schrei der Verzweiflung aus.

Milo hatte noch nichts von alledem gesehen, aber bei diesem Aufschrei zogen sich seine Eingeweide zusammen.

Er stand auf und wusste, lange bevor er ihren Leichnam sah, dass soeben etwas Schreckliches geschehen war. Etwas Gewaltiges, etwas Finsteres und viel mehr als alles Gemetzel und aller Tod und alles Leiden ringsumher.

Etwas Unheiliges.


VIER

Magnificat

»Ich weiß, was ich da gesehen habe. Und ich weiß, was ich jetzt sehe.«

– Zweil, Ayatani

 

In den Straßen von Gildenhang in der Stadtmitte war ein rosa-gelber Nimbus zu sehen, der die Dunkelheit über den Nordwest-Ausläufern des Stadtgebiets durchdrang. Einzelne Lichtfunken flackerten in diesem Schein wie geerdete Blitze. Dumpfes Donnern und Krachen, eingepfercht durch den Schalldeckel, den der Stadtschild bildete, drang an ihre Ohren, und Rauch, ebenfalls durch den Schild eingesperrt, ballte sich zu einem dunstigen Dach zusammen wie eine tief hängende Wolke. Den nun sehr hektischen Berichten von Tak-Log zufolge wurde die Stadt von über tausend Feinden mit Panzerunterstützung angegriffen.

Und die Stadt fiel. Zum Teil unter der Wucht des Angriffs und zum Teil unter der Last eines unentrinnbaren Gefühls der Niederlage und des Verlusts, das die Bevölkerung im Laufe der Nachtstunden überkommen hatte.

Viktor Hark konnte es sich nicht erklären, aber er konnte es spüren. Einen Schmerz, ein Gefühl der Desillusionierung, eines entkräftenden Elends. Vielleicht war es das unerwartete Tempo und die Härte des Chaos-Angriffs. Vielleicht war es die allgemeine Erkenntnis, wie brüchig und labil die imperiale Stellung tatsächlich war.

Nicht einmal in seinen schlimmsten Katastrophenszenarien hatte Gaunt damit gerechnet, dass die Lage so rasch eine so drastische Wendung zum Schlechteren erfahren könnte. Hark wusste das mit Sicherheit. Er hatte sehr viel Zeit mit Gaunt verbracht, um die Risiken der kläglichen Abwehrmöglichkeiten der Civitas Beati, die nicht annähernd adäquate numerische Stärke zu ihrer Verfügung und das völlige Fehlen von Vorbereitungszeit abzuschätzen. Es war ein trübes, freudloses Bild, und Gaunt hatte kein Geheimnis aus seiner Furcht gemacht, der Kampf um Herodor werde mit dem Eintreffen der Hauptstreitmacht des Erzfeindes so gut wie vorbei sein.

Doch diese Hauptstreitmacht hatte Herodor noch gar nicht erreicht, und doch schien die Stadt bereits nach einer Nacht kurz vor dem Kollaps zu stehen.

Tak-Log bezeichnete die Angreifer immer noch als »ketzerische Dissidenten«. Hark seufzte, als er das hörte, und zog sich den Hörer aus dem Ohr. Er wollte nicht mehr zuhören.

Die Straßen waren verstopft, von Leuten und von Gejammer. Das war es. Es waren keine Laute des Entsetzens und der Angst, die aus der Menge aufstiegen. Es war Wehklagen.

Hark fuhr in einem schweren Truppentransporter ziemlich weit vorne in einer Verstärkungskolonne. Sie bestand insgesamt aus zwölf Transportern, alle identisch grau lackiert, lang gestreckte Munitoriumsfahrzeuge, und sie kamen überhaupt nur wegen der drei massiven Chimären aus der Leibkompanie des Marschalls voran, die ihnen den Weg freimachten. Der Anblick von Panzern mit Ketten bewirkte, dass sich die bestürzte Menge rasch teilte.

Oberst Kaldenbach, Lugos Feldkommandant, hatte den Befehl über die Kolonne, und die Trupps der Tanither und der Planetaren Streitkräfte waren ihm verantwortlich. Hark kannte Kaldenbach aus seiner Zeit im Stab des Marschalls noch recht gut. Er war ein kompromissloser, aber begabter Offizier, der eine gute Laufbahn bei den Ardeleanischen Kolonialen mit der Beförderung an die Spitze von Lugos Leibkompanie gekrönt hatte.

Die Kolonne verließ Prinzipal II und bog nach Westen unter die breiten Aquädukte ab, die den agroponischen Bezirk versorgten. Dann fuhr sie auf den ausgedehnten Platz des Astronomenkreises im Schatten des großen vulkanischen Stöpsels, auf dem sich die Astronomenplattform befand, die Bastion der Wissenschaft und des Lernens auf Herodor. Hier oben in diesen alten Observatorien, die bereits seit über zweitausend Jahren beständig in Betrieb waren, hatte Cazalon sein Traktat über nichtbaryonische Materie verfasst, und drei Jahrhunderte später hatte Hazmun Zeng seine Theorie der Gravitation auch im Angesicht heftigen Missvergnügens der Inquisition stur vollendet. Hark hatte erfahren, dass es möglich war, Zengs Werkstatt zu besuchen, die auf Befehl des ersten Offiziars genauso erhalten worden war, wie der große Mann sie verlassen hatte. Die Vorstellung gefiel Hark ungemein. Die Stufen, die grob in die Seite des Vulkanstumpfs gehauen waren, zu dieser kleinen ruhigen Insel der Observatorien, Makroskoptürme, siderischen Tabellen und Bibliotheken hoch über dem Gemurmel der Stadt zu erklimmen und ein paar ruhige Augenblicke in dem staubigen Raum zu verbringen, wo Zeng solch einen unglaublichen Beitrag zur imperialen Wissenschaft geleistet und Notizbücher mit Spiegelschrift gefüllt hatte, um die wachsamen Augen der Inquisition zu täuschen.

Doch wie immer verankerte der Krieg Hark am Boden. In zwanzig Jahren hatte er über vierzig Welten besucht und auf ihnen gedient, und viele davon waren reich an kulturellen Schätzen und bedeutsamen Stätten. Er hatte niemals den Luxus genossen, auch nur eine davon zu besuchen. Immer mussten Kämpfe ausgetragen oder Schlachtordnungen begutachtet werden, und wenn das erledigt war, wartete bereits ein Schiff der Flotte, um ihn zum nächsten Kriegsschauplatz zu fliegen.

Die Kolonne hielt im Kreis, und die Einheiten stiegen aus. Kaldenbach, der in dem langen grünen Mantel mit der Mütze auf dem Kopf robust und entschlossen wirkte, schritt die Linie der Versammelten ab und gab Befehle. Zur Unterstützungseinheit gehörten auch fünfzig Soldaten aus Lugos Leibkompanie, die alle schweren grünen Drillich und Tarnhelme trugen. Ein Major namens Pento aus dem Regiment Civitas Beati befehligte den herodorischen Teil, zwei Elitetrupps der Civitas Beati und fünf Trupps reguläre Planetare Streitkräfte. Sergeant Varl hatte das Kommando über die fünf Trupps der Geister: seinen Eigenen, Hallers, Arcudas, Raglons und Ewlers.

Während Hark seine Kommissarsmütze mit dem Schirm zuerst aufsetzte – »Gaunt-Stil«, nannten es die Geister –, kam er sich ein wenig wie das fünfte Rad am Wagen vor. Kaldenbach hatte seine eigenen Kommissare, ein unzertrennliches Paar eineiiger Zwillinge namens Keetle. Sie waren magere, knochige Rotschöpfe mit heller Haut, die schwarze lange Ledermäntel trugen, die beim Gehen knarrten, während sie beständig flammende und stärkende Wahlsprüche in Stereo von sich gaben. Nach Harks Maßstäben schlechter Stil. Die sich versammelnden Soldaten waren eindeutig verängstigt. Sie standen an der Grenze eines Stadtgebiets, in dem erbarmungslose und unerbittliche Straßenkämpfe tobten, in die man sie wie ins kalte Wasser werfen würde, und sie befanden sich mitten in einer Stadt, die bereits aufgegeben zu haben schien.

»Soldaten des Imperiums!«, brüllte Keetle Eins.

»Seht ihr das da oben?«, bellte sein Bruder, während er auf die Astronomenplattform zeigte.

»Der Sitz der Bildung auf Herodor! Dort studieren Astronomen beständig die sich entfaltende Majestät des Himmels und versuchen, seine Geheimnisse zu ergründen und seine Wahrheiten zu begreifen!«

»Doch selbst ihre Wachsamkeit«, brüllte Keetle Zwo, »ist nur ein flüchtiger Blick verglichen mit der ewigen Wachsamkeit des heiligen Gott-Imperators!«

»Gelobt sei der Gott-Imperator!«

»Gelobt sei der Gott-Imperator, der über uns alle wacht, zu allen Zeiten und in allen Dingen!«

»Sein Blick ruht jetzt auf euch allen«, verkündete Keetle Eins. »Er schweift nicht ab, er beurteilt und begutachtet jede Eurer Taten!«

»Also enttäuscht ihn nicht! Lasst ihn in dieser großen Stunde des Krieges nicht im Stich!«

So plapperten sie noch eine ganze Weile weiter. Hark konnte eine erhebende Rede schwingen, wenn es nötig war, aber das hier war einfach zu viel des Guten. Wie Gaunt manchmal die weiche, freundliche zweite Stimme zu Harks Schwefel und Eisen sang, so hatte Hark jetzt das Gefühl, dass es ihm zukam, mitfühlender zu sein.

Er begann bei den Sergeanten Arcuda und Raglon. Beide waren gerade erst zum Truppführer befördert worden. Sie mussten sich erst noch zurechtfinden, und auf Aexe Cardinal war Raglons erster Einsatz als Truppführer mit reichlich Pech und schweren Verlusten verflucht gewesen.

Sie spannten sich, als er sich ihnen näherte, also lächelte er, und das war wohl so ungewöhnlich, dass sie feixten.

»Einsatzbereit?«

»Herr Kommissar«, bestätigten beide.

Er betrachtete ihre Trupps, die in Dreierreihe Aufstellung genommen hatten, und nahm sich zusätzlich einen Moment Zeit, um Soldat Costin aus Raglons Trupp zu mustern. Costins auf Trunkenheit beruhende Fehler hatten sich nämlich auf Aexe als so kostspielig für Raglons Einheit erwiesen. Gaunt hätte ihn von Rechts wegen erschießen müssen und hätte es auch getan, wäre Dordens leidenschaftliche Intervention nicht gewesen. Dorden hatte seinen Hals riskiert, um Costins zu retten, und dabei Gaunts Autorität untergraben. Die einst warme Freundschaft zwischen dem Kommissar-Oberst und seinem Oberstabsarzt hatte darunter sehr gelitten. Seitdem hatte Hark ein Auge auf Costin, aber der Mann schien sich in aufrichtigem Bemühen, sich zu rehabilitieren, ernsthaft gewandelt zu haben.

»Lassen Sie mich Ihnen eines sagen«, sagte Hark leise zu Raglon und Arcuda. »Ich weiß, was jetzt bei Ihnen im Kopf vorgeht. Sie haben Angst. Angst vor Schmerzen und Tod, Angst vor Versagen. Die Last Ihrer neuen Verantwortung. Dieses entsetzliche Gefühl, Sie könnten es vermasseln und Ihre Kameraden im Stich lassen. Und diese beiden helfen Ihren Nerven mit ihrem aufgeblasenen Gequatsche überhaupt nicht.«

Er zeigte mit dem Daumen hinter sich auf die Keetles, die gerade die widerwilligen Herodorer durch eine Rezitation des imperialen Glaubensbekenntnisses führten. Raglon und Arcuda lachten nervös.

»Vergessen Sie sie«, sagte Hark. »Denken Sie an Folgendes: Die Männer da draußen, unsere Freunde und Kameraden, die anderen Geister in der Kampfzone, stecken bis zum Hals im schlimmsten Schlamassel. Denken Sie an sie und denken Sie an Folgendes … Sie sind es, die sie am liebsten sehen wollen. Nicht einfach nur Verstärkungen, sondern Geister. Die verdammt besten Feldtruppen, die zu kennen ich je die Ehre hatte. Auf nichts hoffen sie mehr als auf den Anblick dieser fünf Trupps, wie sie mit flammenden Gewehren und Feuer im Herzen angestürmt kommen, um ihnen dabei zu helfen, ihre schwere Bürde zu tragen. Für sie werden Sie ein Traum sein, der sich erfüllt. Denken Sie daran, was es ihnen bedeuten wird, und ich verspreche Ihnen, dass Ihnen all Ihre Sorgen vergleichsweise unbedeutend vorkommen werden.«

Sie nickten, entschlossen und resolut.

Hark klopfte beiden auf die Schulter. »Sie werden Ihre Sache gut machen, Sergeanten. Geben Sie das an Ihre Männer weiter, und stimmen Sie sie ein.«

Hark ging weiter zu Haller, einem verghastitischen Veteranen, und Ewler, einem ergrauten alten tanithischen Berufssoldaten. Diese beiden brauchten keine Aufmunterung, und eine Unterhaltung mit ihnen war eher eine fachmännische Plauderei über Taktik und Aufstellung! Er beantwortete ihre Fragen, lobte sie und die Leistungen ihrer Trupps und erzählte ihnen einen Witz über einen Konvent der Ekklesiarchie und eine kurios geformte Frucht, über den sie so laut lachten, dass sie sich damit missbilligende Blicke der Keetles einhandelten.

Schließlich schlenderte er zu Varl. Für die Geister war Varl der ideale Soldat, schlagfertig, selbstsicher, spitzbübisch, aber im Gefecht absolut kühl und beherrscht. Er hatte sich vom gemeinen Soldaten zum Truppführer hochgedient, ausschließlich aufgrund seiner Leistungen, und war bei allen beliebt. Auf Fortis Doppelstern hatte er eine Schulter verloren und dafür eine künstliche bekommen. Wenn es irgendwo in einer Schlacht einen Brennpunkt gab, war Varl mit einiger Sicherheit darin zu finden. Wenn in der Kaserne irgendein Schwindel abgezogen oder ein Streich gespielt wurde, war Varl auch daran an vorderster Front beteiligt. Der Witz über die Nonnen und die Frucht war von ihm. Hark hatte ihn erst dreißig Minuten zuvor gehört, als Varl seinen Trupp aufwärmte.

»Bereit?«

»Ich wurde bereit geboren, Herr Kommissar«, erwiderte Varl und stutzte dann kurz. »Das ist gelogen. Ich wurde geil geboren. Bereit war ich dann, kurz, nachdem ich zehn geworden war.«

Hark lachte, aber er konnte Varls Art entnehmen, dass ihn irgendwas störte. »Was liegt an, Ceg?«

Varl schaute unbehaglich drein. Er tippte sich mit einem Finger an den Stöpsel im linken Ohr. »Ich habe mich in die hiesige Frequenz eingeschaltet, in die Meldungen Tak-Logs, und mir den Kom-Verkehr angehört«, sagte er leise. »Es hört sich an, als würde da vorne Scheiße in einer Nalnuss abgehen. Und die Stimmung auf der Straße ist heute Nacht so, als hätten wir schon verloren.«

»Ja, ich spüre es auch. Ich werde nicht lügen. Ich glaube, es wird ziemlich schlimm.«

»Es ist nicht nur das, Herr Kommissar«, sagte Varl. »Vor fünf Minuten kam eine Meldung. Es hieß, der zweite Offizier der Tanither wäre außer Gefecht.«

»Außer Gefecht?«

»Tot oder schwer getroffen, sie wussten es nicht genau. Und es gab keine Bestätigung.«

»Wer war gemeint, Corbec oder Rawne?«

Varl zuckte die Achseln. »Es könnte jeder sein, beide sind drinnen. Aber bevor die erste Welle der Verstärkungen reingeschickt wurde, war Hauptmann Daur der zweite Offizier in der Kampfzone.«

Corbec, Rawne oder Daur tot. Jeder dieser Vorfälle wäre ein schwerer Schlag für die Moral der Tanither.

»Sie haben den Männern nichts davon gesagt?«, fragte Hark.

»Ich bin nicht dämlich«, erwiderte Varl mit einiger Schärfe, und Hark wusste, dass er den Rüffel verdient hatte.

»Natürlich nicht.«

»Ich wünschte nur, wir könnten endlich ausrücken. Da reingehen und es rausfinden«, sagte Varl. Er warf einen Blick auf Kaldenbach, der jetzt mit den allgegenwärtigen Keetles eine Ansprache an die Leibkompanie des Marschalls richtete. »Ich meine, wir sind hier. Das ganze Rumgeeiere, worauf warten wir noch?«

»Wir warten darauf«, sagte Hark, »dass Lugo uns über Kom den Befehl zum Abrücken gibt.« Er überlegte einen Moment. »Begleiten Sie mich«, sagte er.

Sie gingen zum Oberst. »Was gibt es, Hark?«, fragte Kaldenbach.

»Sollen wir vorrücken, Oberst? Wir sind bereit, und die Nacht wird nicht jünger.«

»Wir warten auf das Startzeichen«, sagte Kaldenbach, ein blasser, gut aussehender Mann Mitte fünfzig mit klaren Gesichtszügen und borstigen grauen Haaren. Wenn man bedachte, dass es sich anhörte, als habe Tak-Log Mühe, ihren Arsch von ihrem Ellbogen zu unterscheiden, konnte dieses Zeichen Harks Ansicht nach noch eine Weile auf sich warten lassen.

»Nun, Herr Oberst«, sagte Hark freundlich, »meine Soldaten sind berühmt für ihre Fähigkeiten als Kundschafter. Wir sollten schon vorgehen und Ihrer Einheit den Weg bereiten.«

Kaldenbach runzelte die Stirn. »Ich wusste gar nicht, dass es Ihre Soldaten sind, Hark. Als ich beim letzten Mal nachgesehen habe, waren Sie ein ganz normaler Kommissar, nicht … auch noch ein Oberst.« Der unwillkommene Verweis auf Gaunts ungewöhnliche und ungeliebte Doppelfunktion war ein kaum verhohlener Seitenhieb.

»Meine Soldaten sind berühmt für ihre Fähigkeiten als Kundschafter, Herr Oberst«, sagte Varl rasch. Der Zeitpunkt für seinen Einwurf war perfekt gewählt. »Und als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war ich hier der ranghöchste tanithische Offizier. Ich bin sicher, Kommissar Hark wird mir zustimmen.«

Hark lächelte und nickte.

Kaldenbach sah Varl kalt an, und die Keetles flüsterten grimmig miteinander.

»Sind Sie scharf darauf zu sterben, Sergeant?«, fragte Kaldenbach.

»Ich bin scharf darauf, dem Gott-Imperator zu dienen … und Ihnen, Herr Oberst.«

»Na schön«, schnauzte Kaldenbach. »Dann rücken Sie aus. Wir warten, bis das Signal kommt. Machen Sie uns den Weg frei, wenn Sie so verdammt gut darin sind. Und halten Sie ständigen Kom-Kontakt.«

Varl salutierte und eilte mit Hark neben sich zu seinen Männern. »Geister von Tanith!«, rief er. »Tummeln wir uns! Das Spiel ist eröffnet!«

Die Geister formierten sich um ihn.

»Gut gemacht, Ceg«, flüsterte Hark ihm zu.

»Sie haben ihn für mich vorbereitet, Herr Kommissar. Ich war nur rechtzeitig da, um ihm den Gnadenstoß zu geben.«

Die Abteilung der Geister trabte über den gepflasterten Platz. Die Männer hüllten sich in ihre Tarnumhänge und verschmolzen förmlich mit den schmalen Straßen dahinter.

Prento, der herodorische Offizier, sah sie verschwinden. Das Letzte, was er oder einer seiner Männer wollte, war, sich verfrüht in den Kampf zu stürzen.

Anders, so schien es, als die Fremdweltler in Schwarz.

 

Das Amt des öffentlichen Schreibers barst auseinander und stürzte ein, alle acht Etagen. Staub und Flammen wallten aus der Lawine aus Mauerwerk, und die Männer von fünf Trupps stürzten in Deckung.

Untersetzt, robust, einäugig und nicht annähernd so beweglich wie seine jüngeren Soldaten, warf Agun Soric sich flach auf den Boden, und die Staubwolke verschluckte ihn. Überall segelten schwelende Papierfetzen durch die Luft, Millionen Seiten aus Akten, die durch die Explosion freigesetzt worden waren.

»Chef! Chef!«, hallte Vivvos Stimme durch den wallenden Rauch.

Soric rappelte sich auf. »Immer mit der Ruhe, Vivvo. Ich bin noch nicht mal halb tot.« Dennoch erhob Soric keine Einwände, als Vivvo ihn stützte.

»Wir müssen den verdammten Panzer finden«, sagte Soric.

»Sammeln! Sammeln!«, brüllte Vivvo, und die versprengten Elemente von fünf Trupps kamen aus ihrer Deckung. Die Straße war ein Chaos. Weißer Schutt bedeckte das Pflaster, und die meisten Gebäude auf der Westseite der Straße standen in Flammen. Soric hinkte vorwärts und bedeutete seinen belagerten Truppen dabei per Handzeichen auszuschwärmen. Dann hockte er sich auf einen Alabasterbrocken, nahm seine Maske ab und spie aus.

Kazel, Mallor und Venar fuhren plötzlich herum, als sie Bewegung südlich von ihnen registrierten.

»Zwanzig, siebzehn! Nicht schießen!«

»Nur die Ruhe, Jungs!«, mahnte Soric, während Sergeant Meryns Trupp aus dem wallenden Rauch zu ihnen gerannt kam.

Meryn war ein junger, auf eine glatte Art gut aussehender Tanither, von dem es hieß, Rawne schule ihn. Sorics Ansicht nach erklärte das, warum sich der ehemals freundliche, liebenswerte Meryn zuletzt zu einem abgebrühten Schweinehund entwickelt hatte. Er war ganz offen und auf ganz falsche Art ehrgeizig, und es gab schmutzige Gerüchte, er habe im Zuge des Sondereinsatzes auf Phantine eine grausame, fast psychotische Seite seines Charakters erkennen lassen. Es hieß, er habe Zivilisten ermordet. Soric wusste nichts darüber und wollte auch nichts darüber wissen, und an der Akte des hübschen Jungen gab es ansonsten nichts auszusetzen. Doch von allen Trupps, mit denen er sich hätte vereinen können, war Meryns der Letzte auf seiner Liste, natürlich abgesehen von Rawnes Eigenem.

Und dann war da noch dieser lächerlich finstere Schnurrbart, den Meryn sich hatte wachsen lassen.

»Kurze Atempause, Chef?«, mutmaßte Meryn, als er sich dem sitzenden Soric näherte.

Soric ging nicht darauf ein. »Ich warte nur darauf, dass Sie den verdammten Krieg ganz allein gewinnen, mein Junge«, sagte er und setzte sich die Maske wieder auf. »Irgendwo in den Straßen da drüben ist ein Panzer, und der macht ‘ne ziemliche Schweinerei.«

Meryn drehte sich um und rief: »Guheen?«

Soldat Guheen kam zu ihnen gelaufen, einen kompakten Raketenwerfer auf einer Schulter. Coreas begleitete ihn mit einem Tornister der langen Raketen.

»Es gibt Raketen zu werfen«, sagte Meryn zu ihnen. Er wandte sich an Soric. »Wo ist der Panzer?«

Soric erhob sich. Er war einen Kopf kleiner als Meryn und so hässlich, wie Meryn hübsch war. »Wenn ich das wüsste«, sagte er, »hätte ich den Misthund selbst geschreddert.«

»Sicher«, sagte Meryn zweifelnd. Er winkte seinen Trupp vorwärts in das Labyrinth der Seitenstraßen hinter der Ruine des Schreiber-Amts. »Haltet den Kopf unten!«, rief er. »Findet diesen Panzer für mich!«

Meryns Trupp, Vierzehn, war gut gedrillt und schneidig, das musste Soric dem hübschen Bastard lassen.

Er wollte gerade Vivvo zurufen, er solle den fünften Trupp zur Ordnung rufen und Meryns Haufen mal zeigen, wie es gemacht werde, als ein Papierfetzen vor seinen Füßen landete. Es war nur einer aus dem Gestöber, das aus dem eingestürzten Amt geweht worden war. Scharen davon, viele brennend, gingen auf die Ruinen nieder. Aber wo alle anderen weiß waren, normale Munitoriumsblätter, war dieser blau und ganz leicht.

Er schaute darauf, seufzte tief und hob das Blatt dann auf.

In seiner eigenen Handschrift stand darauf: Guheen bringt sich um, wenn er weiter in die Richtung geht. Der Panzer ist hinter dem Laden des Möbelschreiners.

Einfach so. Frech wie Gak.

Soric schauderte, warf den Fetzen weg und brüllte aus Leibeskräften: »Guheen! Runter mit euch!«

Guheen und Coreas hörten ihn beide, blieben stehen und drehten sich um.

»Runter mit euch, ihr Gakker!«, brüllte Soric, während er losrannte. Er erreichte Hefron aus seinem eigenen Trupp und riss ihm dessen Kettenschredder aus den untätigen Händen.

»Was ist denn …«, brüllte Meryn.

Guheen und Coreas warfen sich flach auf den Boden, ungefähr eine halbe Sekunde, bevor eine Panzergranate die Seitenmauer der Wäscherei durchschlug, die sie gerade passierten. Die Mauer flog auseinander, und Ziegel wurden in alle Richtungen geschleudert. Die heulende Granate hinterließ auf dem Weg über sie hinweg einen Kondensstreifen im immer noch wallenden weißen Staub und traf schließlich die Ecke eines verrammelten Cafés. Die Explosion machte sie alle taub und ließ die Fassade des Cafés in einem Chaos aus Flammen und umherfliegenden Steinsplittern einstürzen.

Alle lagen benommen und verblüfft auf dem Boden.

Außer Soric. Keuchend rannte er durch die Trümmer, bis er einen klaren Blick auf ein Gebäude hatte, bei dem es sich um den Laden des Möbelschreiners handeln musste. Und da war der Panzer, ein schweres mittelgroßes Modell, blutrot lackiert und mit Symbolen bepinselt, bei deren Anblick sich Soric der Magen umdrehte. Eine abgezogene Menschenhaut war vorne über den Rumpf gezogen. Der massige Turm drehte sich gerade. Soric konnte das Scheppern der Ketten hören.

Mit den Mucken in seinem Bein konnte er sich nicht hinknien, um den Rückschlag zu dämpfen … oder sich zu verstecken. Er blieb einfach stehen, während sich der großkalibrige Lauf in seine Richtung drehte, und legte sich das Werferrohr, das er Hefron entrissen hatte, auf die breite Schulter.

»Hallo, ihr Gakker«, zischte er und drückte ab. Die Rakete raste los und fegte dabei mit solcher Wucht Rauch aus dem hinteren Ende des Rohrs, dass Soric umgeworfen wurde. Die Rakete jagte über die Trümmer und traf den Panzer genau unterhalb der Hüftpanzerung. Es gab eine laute Explosion und Schrapnelle flogen durch die Luft, so heiß und hart wie Laserstrahlen.

Als Soric aufschaute, stand der Panzer in Flammen.

Er stand auf, drehte sich mit erhobenen Armen zu seinen Männern um und schwang den Werfer hin und her. »Wer ist der Chef? Wer ist der verdammte Chef?«

Sie jubelten ihm laut zu.

Meryn ging zu ihm und blieb unterwegs kurz stehen, um nach Guheen und Coreas zu sehen, die vorübergehend taub, ansonsten aber unversehrt waren.

»Woher bei Feth haben Sie das gewusst?«, fragte er Soric.

»Gut geraten«, erwiderte Soric.

Im Kom knisterte es, und ein weiterer Trupp der Geister tauchte aus dem Staub bei ihnen auf. Es war der zweite Trupp, Corbecs Haufen, oder zumindest das, was noch von ihm übrig war. Mkvenner führte ihn gemeinsam mit Rerval an.

Der große, hagere Scout hatte sich immer noch nicht völlig von den schweren Wunden erholt, die er auf Aexe Cardinal erlitten hatte. Mkvenners langes Gesicht war von mühsam unterdrückten Schmerzen verzerrt.

»Ven!«, rief Soric. »Wo ist der Rest von euch Jungs?«

Mkvenner zuckte die Achseln. »Wir sind unter Beschuss geraten. Panzerbeschuss. Drei oder vier Einheiten insgesamt. Ich habe so viele rausgeschafft, wie ich konnte. Ich glaube …«

»Was?«

»Ich glaube, Corbec könnte es erwischt haben. Wir können ihn nirgendwo finden.«

Soric schaute weg und blinzelte angestrengt. »Gak, das ist … das ist nicht gut.« Er wandte sich an Rerval. Der junge Signalmann gab sich alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.

»Haben Sie die Frequenzen durchprobiert?«, fragte Soric.

Rerval nickte.

»Probieren Sie sie noch mal durch«, sagte Soric.

Zwei vereinigte sich mit Fünf und Vierzehn. Vivvo kam zu Soric gelaufen und reichte ihm einen Messingzylinder.

»Was ist das?«

»Habe ich zwischen den Trümmern gefunden, Sergeant«, sagte Vivvo.

Soric nahm ihn. Er brauchte jetzt nicht einmal mehr nachzusehen. Es war sein Nachrichtenzylinder. Er klebte an ihm wie Pech …

Er schraubte den Deckel auf und schüttelte den zusammengefalteten Zettel aus dünnem blauen Papier heraus.

Darauf stand: Colm lebt noch, ist aber durch schweren Beschuss festgenagelt. Ven ist in zwei Tagen tot, wenn du ihm keine Hilfe besorgst. Zwei Schleichpanzer südlich von dir, gut verborgen. Sei vorsichtig … viel mehr Blutpakt-Soldaten schlagen demnächst zu.

Soric atmete angestrengt aus. »Corbec lebt«, sagte er zu Mkvenner.

»Woher, bei Feth, wissen Sie das?«

»Nennen Sie es eine Ahnung. Schwärmen wir nach Westen aus. Raketen nach vorne. Da draußen haben sich ein paar Schleichpanzer versteckt, wenn ich das richtig sehe. Aber wir können es schaffen.«

Mkvenner nickte und wischte sich mit dem Jackenärmel Blut aus dem Mundwinkel. Warum, im Namen des Gott-Imperators, hatte er sich nicht zurückgelehnt und sich kurieren lassen? Welche inneren Schäden fügte er seinem Körper damit zu?

»Gehen Sie in ein Feldlazarett, Ven?«, sagte Soric.

»Es geht mir gut.«

Soric sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Hochgewachsen, hager und tödlich, war Mkvenner der beängstigendste Soldat der Geister, und das schon, noch bevor man etwas über ihn wusste. Niemand legte sich mit ihm an. So viel Ärger war das einfach nicht wert. Doch Soric gab nicht so leicht klein bei.

»Das ist ein Befehl, Mkvenner. Gehen Sie zu Dorden oder Curth, und zwar sofort«, sagte Soric.

Mkvenner starrte den untersetzten älteren Mann an und nickte schließlich. »Sicher«, sagte er und schlurfte durch den Rauch davon.

»Bewegt euch! Ihr habt mich verstanden!«, brüllte Soric. »Trupp Zwei, ihr untersteht jetzt mir!«

»Hochnäsiger Zwerg«, sagte Meryn, der zusah, wie Soric die Soldaten um sich scharte. Sie liebten ihn, diese Schwachköpfe.

»Sergeant?«, sagte Fargher, der sich Meryn näherte. Er hielt eine zusammengeknüllte Kugel aus dünnem blauen Papier in der Hand.

»Was ist das?«, wollte Meryn wissen.

»Chef Soric hat sich das angesehen, bevor … bevor er den Panzer ausgeschaltet hat, Sergeant. Ich dachte, Sie würden es vielleicht sehen wollen.«

Meryn entfaltete das Papier und las es: Guheen bringt sich um, wenn er weiter in die Richtung geht. Der Panzer ist hinter dem Laden des Möbelschreiners.

»Was ist das … Hexerei?«, flüsterte er.

»Sergeant?«, fragte Fargher.

»Schon gut, Fargher«, sagte Meryn, während er das Papier sorgsam zusammenfaltete und in die Jackentasche schob. »Ich denke nur laut …«

Zum vierten Mal in den letzten zwanzig Minuten versuchte der dritte Trupp um dieselbe Straßenecke vorzustoßen, ohne dabei zu sterben. Sie kauerten zusammengedrängt auf einer kleinen Zugangsterrasse hinter einer Fabrikanlage zur Trennung von Öl und Gas im Bezirk Eisenhalle. Die Terrasse grenzte im rechten Winkel an die Hauptstraße, und etwas auf dieser Straße nagelte sie mit schwerem Beschuss fest.

Während der Großteil seiner Einheit weit hinter ihm geduckt auf der Terrasse kauerte, näherte sich Rawne mit dem Späher seines Trupps, Leyr und den Soldaten Caffran und Feygor vorsichtig der Kreuzung. Wenn sie noch viel länger untätig blieben, würden sie die vorrückenden Bodentruppen des Feindes überrennen, und die Terrasse war nicht der richtige Ort für ein Feuergefecht.

Die meisten tanithischen Späher hatten ihren eigenen Trick, wie sie um Ecken schauten, die vom Feind unter Beschuss genommen werden konnten. Leyr hatte zu diesem Zweck ein kleines Taschenperiskop, ein Präzisionsinstrument aus Messing, das er sich auf Aexe Cardinal angeeignet hatte. »Ich habe es von einem aexegarischen Oberst bekommen«, erzählte Leyr jedem, der ihn danach fragte, »der stehen geblieben ist, als er sich hätte ducken sollen. Er hatte keine Verwendung mehr dafür. Er hatte auch keine Verwendung mehr für seine Brille, seinen Schnurrbartkamm und seine Mütze.« Das Periskop war stark, aber klein genug, um es in der Kartentasche seiner Uniform verstauen zu können. Er schob das Sichtende um die zerschossene Ziegelecke und warf einen Blick hindurch. Fünfzig Meter weiter, die mit Trümmern übersäte Hauptstraße entlang, stand ein Schleichpanzer mitten auf der Straße, dessen Waffen in ihre Richtung zeigten.

»Sie hatten recht«, flüsterte Leyr. »Schleichpanzer.«

Rawnes Lippe kräuselte sich verärgert. »Haben wir noch Panzerabwehrraketen übrig?«, fragte er, obwohl er die vermutliche Antwort bereits kannte.

»Nein, Herr Major«, sagte Caffran. »Wir haben keine mehr. Die Kettenschredder haben keine Munition mehr.«

»Vorschläge?«

»Wie weit weg ist er?«, fragte Feygor Leyr.

»Vierzig Meter, vielleicht fünfzig«, erwiderte Leyr nach einem neuerlichen Blick. Zu weit, um eine Sprengladung zu werfen. »Wir lassen uns besser rasch was einfallen«, fügte er hinzu. »Da sind Truppen im Anmarsch.«

»Ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben«, sagte Rawne. »Wir müssen uns zurückziehen, vielleicht eine neue Stellung ein paar Straßen weiter da entlang einrichten.«

Die Männer nickten. Niemand trat gerne den Rückzug an, aber es starb auch niemand gerne grundlos.

Feygor gab den Befehl mit einer Reihe rascher, deutlicher Gesten weiter, und der Trupp zog sich von der Terrasse zurück.

Die Terrasse führte zu einem eisernen Laufsteg über einen Ablaufgraben für Chemieabfälle und dann weiter auf einen großen, gepflasterten Platz, in dessen Mitte sich die Aluminiumrohre und Flansche eines Atmosphärenerzeugers befanden. Einheiten wie diese waren über den gesamten Stadtrand verteilt. Sie wurden von den Hauptfabriken in der Makropole gespeist und halfen, die dünne lokale Atmosphäre der Civitas zu bewahren.

Der Trupp kam zu einem jähen Stillstand. Rawne eilte geduckt nach vorne. Banda, der weibliche Scharfschütze des Trupps, hatte halten lassen. Sie kauerte neben einer niedrigen Mauer und hatte ihr Präzisionsgewehr erhoben. Rawne, ein extrem konservativer imperialer Mann, war von Anfang an absolut gegen die Zulassung weiblicher Soldaten gewesen, und Banda – die vor Selbstvertrauen und körperlicher Attraktivität nur so strotzte – war ein besonders langer Dorn in seinem Fleisch gewesen. Doch in der Grabenhölle von Aexe waren sie gemeinsam verwundet worden und hatten einander geholfen, es zu überleben. Das hatte dazu geführt, dass sie einander akzeptierten und respektierten. Mittlerweile verließ sich Rawne auf Bandas Rat ebenso wie auf Feygors und Caffrans. Manche munkelten sogar, Rawne und Banda seien ein Paar, aber niemand wagte einen der beiden danach zu fragen.

»Bewegung«, meldete sie.

»Identität?«

»Kann ich nicht sagen.«

Rawne signalisierte Kampfbereitschaft nach hinten. »Kopfschuss, sobald Sie einen Kopf sehen«, sagte er zu dem Mädchen.

Sie zielte und wartete, bis sich etwas in das Blickfeld ihres Zielfernrohrs schob. Im letzten Augenblick nahm sie den Finger vom Abzug.

»Das sind unsere«, sagte sie.

Ein arg ramponierter Trupp des Regiments Civitas Beati marschierte müde auf den Platz. Rawne klemmte sich ans Kom und rief sie an. Ihr Anführer war Udol, der Major, den er bei ihrer unorthodoxen Ankunft auf Herodor erst am Tag zuvor kennengelernt hatte.

»Da ist kein Durchkommen«, sagte Udol mit einer Geste in die Richtung, aus der er und seine Männer kamen. »Sie beharken die Gegend mit Mörsern, die sie auf fahrbare Plattformen montiert haben.« Rawne hatte das entfernte beharrliche Donnern dieser Waffen bereits gehört.

»Hinter uns ist es genauso schlimm«, sagte er nur. »Bodentruppen des Blutpakts rücken mit Unterstützung mindestens eines Schleichpanzers vor. Sie haben die Straße abgeriegelt.«

»Blutpakt?«, fragte Udol. »Von Blutpakt war keine Rede. Tak-Log sagt, es wären ketzerische Plünderer.«

»Bei allem Respekt«, erwiderte Rawne in einem Tonfall, der keinen verriet, »Ihr Tak-Log sendet Schwachsinn. Wir kämpfen gegen den Blutpakt. Gut ausgebildete, harte, gut unterstützte und systematische Truppen. Ihr Werk verrät sie. Außerdem habe ich schon gegen sie gekämpft.«

»Was machen wir jetzt?«, fragte Udol in der Hoffnung, dass das Zittern in seiner Stimme nicht zu offensichtlich war.

»Machen?«, höhnte Rawne. »Ich glaube, uns bleiben nicht sonderlich viele Möglichkeiten.«

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sich ihre wenigen Möglichkeiten auf dramatische Weise in Luft auflösten. Die Energiestrahlen der Kanonen des Schleichpanzers fegten über den Platz und sprengten ganze Abschnitte des Straßenbelags in die Luft. Einige weitere Strahlen durchschlugen die Metallrohre des Atmosphärenerzeugers, der ein unheimliches verwundetes Heulen von sich gab, da Luft aus den Löchern entwich.

Die Soldaten – Tanither und Civitas gleichermaßen – rannten in Deckung. Mehrere Soldaten wurden dabei niedergemäht.

Die Möglichkeiten hatten sich auf zwei reduziert.

Kämpfen oder sterben.

 

Ein kilometerlanges Stück des breiten Prinzipal I, vom Turm des Gebetsverstärkers Gorgonaut zurück über den Hazgulplatz zur Beatiplaza, war Schauplatz einer großen Panzerschlacht. Neunundzwanzig Fahrzeuge der Hauptstreitmacht des Erzfeindes fuhren nach Süden und wurden von zwölf leichten Panzern der Civitas Beati und sechs Bezwingern aus Lugos Leibkompanie gestellt.

Die breite und einst majestätische Allee war mit brennenden Wracks und Granattrichtern übersät. Die meisten Chaos-Panzer waren Schleichpanzer und leichte Standardpanzer, aber sie hatten mindestens einen Superschweren, ein blutrotes Ungeheuer, das alles auslöschte, was ihm vor den Lauf kam.

Gaunts Trupp hielt seine Stellung im Erdgeschoss der Werkstatt eines Glasbläsers auf der Westseite des Hazgulplatzes. Sie hatten ihre Panzerabwehrmunition schon längst verbraucht und konnten herzlich wenig gegen die Panzer ausrichten. Stattdessen konzentrierten sie ihre Bemühungen auf die feindlichen Bodentruppen. Aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre beständige Einmischung die Aufmerksamkeit eines Kampfpanzers der Chaos-Truppen auf sich ziehen würde.

Ständig geduckt, um nicht von gelegentlich durch Löcher im Mauerwerk hereinjaulenden verirrten Schüssen getroffen zu werden, schritt Gaunt die Stellungen seines Trupps ab und gab leise, aufmunternde Kommentare ab.

In einer solchen Kampfzone hätte er normalerweise einen höheren Gang eingelegt und vielleicht aus dem Schatz seiner bevorzugten Zitate geschöpft oder eventuell sogar eine Rede improvisiert, um die Stimmung zu heben.

Doch diese Stimmung war gedrückter, als er es je erlebt hatte. War er so leicht durchschaubar geworden, dass seine Männer in ihm sofort die drohende Aussicht auf ein Scheitern sahen? Nun, da er die schmerzliche Wahrheit über die »Heilige« kannte, konnte Gaunt die Wut und Enttäuschung, die er empfand, kaum noch herunterschlucken. Ohne diesen einen Funken des Lichts und der Hoffnung schien der Kampf hier auf Herodor kaum besser als Selbstmord zu sein.

Seltsamerweise war es, als spüre das auch die gesamte Stadt. Als sei ihr das Herz herausgerissen worden, als fühle sie sich so verloren und verzweifelt wie er selbst. Gaunt konnte Colm Corbecs Gesichtsausdruck von vor einer Stunde nicht vergessen, kurz bevor sie in Stellung gegangen waren. »Haben Sie das gerade nicht gespürt? Haben Sie das gerade nicht gespürt?«

Corbec hatte es nicht erklären können, aber Gaunt hatte andere Soldaten in der Nähe gesehen, die im gleichen Augenblick aus keinem offensichtlichen Grund ebenso aufgeregt waren. Und im Kom war plötzlich eine Fülle bestürzter Ausrufe zu hören gewesen. Das war der Augenblick gewesen, in dem die Stimmung in den Keller gesunken war.

Corbec hatte sich zusammengerissen, und sie waren in die Kampfzone vorgerückt. Gaunts letzter Blick auf seine Nummer zwei hatte ihm einen erschütterten Obersten gezeigt, der seinen Trupp mit offensichtlichem Unbehagen in eine verräucherte Seitenstraße führte.

Alles erbebte, als zwei Panzergranaten ganz in der Nähe einschlugen. Die Werkstatt wurde erschüttert, und Staub rieselte von der Decke. Gaunt überprüfte das Magazin seiner Boltpistole und kletterte über das Geröll zu den Soldaten Lyse und Derin, die einen Eingang bewachten. Beide gaben ab und zu einen Schuss mit dem Lasergewehr durch die zerstörte Tür ab.

»Wie halten Sie sich?«, flüsterte Gaunt, als er sich hinter sie duckte.

Lyse hob eine staubige Hand und zeigte zum besseren Verständnis ihres Kommandanten auf ein paar Stellen des im Feuerschein liegenden Schlachtfelds draußen. »Sie sammeln Fußtruppen hinter der Mauer da und hinter dem Wrack des Lastwagens«, sagte sie. »Wir haben kein klares Ziel.«

»Aber mit Ihrem Werfer hätten Sie sie mittlerweile längst erledigt, richtig?«, fragte er.

Lyse nickte. Auf Phantine war sie zum ersten weiblichen Flammer eines Trupps aufgestiegen, und darauf war sie stolz. Lyse war eine zähe, breitschultrige Verghastitin Ende dreißig, die mit Vorliebe ein schwarzes Unterhemd trug, um ihre Arme zeigen zu können, die ebenso muskulös waren wie die eines Mannes. Wie alle tanithischen Flammer vermisste sie ihre Spezialwaffe, und das galt auch für Gaunt. Ein paar Stöße aus einem ganz normalen imperialen tragbaren Flammenwerfer Serie VIII hätten den Blutpakt geröstet, der sich jetzt anschlich.

Neben ihnen feuerte Derin plötzlich energischer. Ein paar Gestalten in rotbrauner Kampfuniform waren hinter dem brennenden Fahrzeugwrack draußen hervorgekommen und versuchten die seitliche Mauer zu erreichen. Lyse fing ebenfalls an zu schießen, und Gaunt sank auf die Knie und warf seine Feuerkraft ebenfalls in die Waagschale. Laserstrahlen und Boltpatronen jagten durch die Tür. Eine der Gestalten ging einfach zu Boden und verschwand in den Trümmern. Ein anderer Blutpakt-Soldat wurde dramatisch mitten im Schritt herumgerissen. Der Rest lief wieder zurück in Deckung.

»Gut«, sagte Gaunt, auf dem Sprung weiterzugehen. »Bleiben Sie auf der Hut und tun Sie das jedes Mal, wenn sie irgendwas versuchen.«

»Es ist, als hätte sie uns im Stich gelassen, Herr Kommissar«, sagte Derin plötzlich. Gaunt blieb stehen. Einen Moment nahm er an, Derin redete von Lyse, was keinen Sinn ergab. Dann sah er Derins Gesicht, und ihm ging auf, dass er nicht Lyse meinte.

»Die Heilige, Herr Kommissar. Vom Gefühl her ist es so, als wären wir extra ihretwegen gekommen und als hätte sie uns jetzt im Stich gelassen.«

Gaunt wusste noch, dass Derin auf Hagia der von Corbec privat geführten Gruppe angehört hatte. Damals hatte Derin nicht dieselben Anzeichen heiliger Inspiration erkennen lassen wie Corbec, Daur und Dorden – er hatte sich Corbecs Unternehmen einfach aus Loyalität dem alten Mann gegenüber angeschlossen –, aber das Erlebnis hatte eindeutig Spuren bei ihm hinterlassen.

»Das hat sie nicht«, sagte Gaunt schlicht. »Sie ist hier bei uns. Das ist sie immer.«

»S-sind Sie ihr begegnet?«, fragte Derin.

»Ja, Soldat, das bin ich«, sagte Gaunt in dem Versuch, nichts zu sagen, was eine offensichtliche Lüge war.

»Es fühlt sich aber nicht so an, als wäre sie hier. Nicht mehr. Es hat sich so angefühlt, als wir hier eingetroffen sind. Als wäre irgendwas in der Luft. Aber das ist jetzt nicht mehr da. Es ist einfach weg.«

»Die Beati Sabbat ist immer noch hier, Derin. Sie wird die Verteidiger ihres Schreins nicht im Stich lassen. Und vergessen Sie niemals … der Imperator beschützt.«

Derin war ein wenig getröstet, aber die besorgte, beunruhigte Miene wich nicht völlig.

Gaunt wurde in den hinteren Teil der Werkstatt gerufen, wo der Späher seines Trupps, Caober, gerade von einem Kundschaftergang durch die ausgebombte Straße links von ihnen zurückgekehrt war.

»Wir müssen uns langsam absetzen, Herr Kommissar«, sagte er. »Drei oder vier der feindlichen Panzer sind nach Westen abgebogen und umgehen uns. Wir werden in die Zange genommen, wenn wir hier bleiben.«

»Was schlagen Sie vor, wohin?«, fragte Gaunt.

Caober zuckte die Achseln. »Ich habe Verbindung zu den Trupps von Sergeant Mkoll und Hauptmann Daur aufgenommen, Herr Kommissar. Sie sind beide bereits über die Kreuzung in die Habs da drüben zurückgedrängt worden.«

»Mit anderen Worten, Rückzug?«

»Herr Kommissar, zurück ist die einzige offene Richtung. Es gibt kein Vorwärts mehr.«

Gaunt nickte. »Irgendein Zeichen von Corbec?«

»Nein, Herr Kommissar.«

»Schön, dann setzen wir uns durch die Granatlöcher in der rückwärtigen Mauer ab. Caober, suchen Sie uns ein Hab, in dem wir Stellung beziehen können, und zeigen Sie den Geistern den Weg, wenn sie rauskommen. Beltayn?«

Sein Adjutant kam zu ihm gelaufen.

»Wir setzen uns nach hinten ab. Caober übernimmt die Spitze. Geben Sie das weiter, und machen Sie zügig.«

Beltayn wandte sich ab, um Anweisungen zu geben, als das Gebäude direkt von einer Granate getroffen wurde, die ein Stück Wand nach innen einstürzen ließ und zwei Mitglieder des ersten Trupps tötete. Ein kreischendes Wuupp, ein blitzender Feuerschlag, und dann rappelten sich alle Überlebenden in dem erstickenden Rauch auf.

Gaunt hörte schweren Beschuss von draußen. Über Kom rief Derin: »Sie kommen! Sie greifen uns an! Sie kommen rein!«

Gaunt wusste, dass jetzt kein Rückzug mehr möglich war. Er zog sein Energieschwert und schaltete es ein. »Geister von Tanith!«, schrie er. »Im Namen des Gott-Imperators der Menschheit … gebt ihnen die Hölle!«

 

»Was machen Sie denn hier, Chef?«, fragte Domor überrascht. Corbec, dessen Uniform und Rucksack mit einer grauen Staubschicht bedeckt waren, kam in das Kellergeschoss der Manufaktur, wo Domors Trupp die Verwundeten bewachte. Über der Erde brannte der Bezirk in weiten Teilen und wurde von Artillerie beschossen. Es gab keine Hoffnung, verwundete Soldaten abzutransportieren.

»Ich habe mich verirrt«, sagte Corbec. »In dem allgemeinen Chaos. Da draußen ist es haariger, als ich es bin. Sind welche von meinen Jungs hier aufgetaucht?«

Domor schüttelte den Kopf. »Wir haben Männer von Zehn, Elf und Dreizehn hier, aber kein Zeichen von irgendjemandem aus Ihrer Einheit.«

»Kom?«

»Sie machen Witze, bei dem Gewitter da oben?« Der Boden über ihnen erbebte unter dem schweren Artilleriebeschuss. Nicht einmal das Kurzstrecken-Kom funktionierte störungsfrei. Corbec sah Criid nicht weit weg auf ein paar Säcken liegen. Kolea und Lubba waren bei ihr.

»Wie geht es ihr?«

»Ganz gut«, sagte Domor. »Eine Kopfwunde. Nicht besonders schlimm. Andere hat es schlimmer erwischt.«

Das sah Corbec selbst. Es war tatsächlich übel und würde bis Tagesanbruch noch sehr viel übler werden. Hier unten gab es auch Zivilisten. In einer Ecke sah Corbec mehrere Erwachsene, die eine Gruppe verängstigter Kinder zu trösten versuchten. Alle waren schwarz von Asche und Ruß. Er ging zu ihnen. Die Erwachsenen mit den Kindern waren alle Zivilisten, dem Aussehen nach Pilger. Bonin stand in der Nähe an eine Wand gelehnt und trank aus seiner Wasserflasche.

»Haben Sie ein persönliches Interesse?«, fragte Corbec ihn.

»Milo und ich mussten kämpfen wie verrückt, um diese Kinder zu retten. Wir haben alle ein paar Straßen weiter in der Falle gesessen. Es war ziemlich knapp.«

»Panzer?«

Bonin nickte. »Sie sollten vielleicht ein Wort mit Milo wechseln«, sagte er leise.

»Mit Milo? Warum?«

Bonin zuckte nur die Achseln und sagte nichts mehr.

Corbec fand Milo in der am weitesten entfernten, dunkelsten Ecke des Kellerraums. Er saß vorgebeugt da, ziemlich mitgenommen und erschöpft. Eine kleine Gestalt lag neben ihm unter einem schmutzigen Sack.

»Brinny, mein Junge?«

Milo sah auf. Die Trauer auf seinem Gesicht raubte Corbec den Atem.

»Du siehst so aus, wie ich mich fühle«, versuchte er zu scherzen, doch Milo war zu sehr von seinen Gefühlen überwältigt, um darauf zu antworten.

Corbec setzte sich neben ihn.

»Was ist passiert?«

»Da war ein Mädchen«, sagte er. Er redete so leise, dass Corbec sich vorbeugen musste, um ihn vor dem Hintergrundlärm des Artilleriebeschusses verstehen zu können.

»Ein Mädchen?«

»Ja …« Milo betrachtete die zerknautschte Gestalt unter dem Sack. Corbec reimte sich den Rest zusammen.

»So etwas ist immer hart. Sie ist dir aufgefallen, nicht? Du wirst einfach …«

»Sie verstehen nicht, Herr Oberst. Sie war … Ich weiß nicht. Sie hatte etwas an sich. Etwas Erstaunliches.«

»Ja, nun, s…«

»Ich hielt sie für die Heilige.«

Corbec stutzte. »Was?«

»Ich wusste, dass die Heilige bei uns war. Ich konnte es spüren. Wie auf Hagia, wissen Sie?«

Corbec nickte. Er kannte das Gefühl. Es hatte auf Hagia Einzug in seine Seele gehalten und ihn seitdem nicht mehr verlassen.

»Ich wusste, dass sie bei uns war, wirklich bei uns. Nicht nur auf diesem Planeten, wie man uns gesagt hatte, sondern bei uns auf der Straße, mitten darin.«

»Sie wacht über uns«, murmelte Corbec.

»Sie war da. Ich habe dieses Mädchen gesehen, und da wusste ich es einfach.«

»Und?«

»Sie ist gestorben. Sie hat die Kinder gerettet und ist dann gestorben. Das war nicht so beabsichtigt. Ich kann spüren, dass es nicht so beabsichtigt war. Was machen wir ohne sie?«

Corbec antwortete nicht. Er hob eine Ecke des Sacks an. Das Mädchen war sehr friedlich und sehr tot. Nur ein junges Mädchen, ein weiteres Opfer des endlosen Krieges. Er legte den Sack wieder zurück.

»Es war nicht so beabsichtigt«, wiederholte Milo.

»Nichts von alledem war beabsichtigt«, knurrte Corbec.

Von draußen drang das Knattern von Handwaffen zu ihnen herein. Domor, Bonin und die anderen gesunden Soldaten im Kellerraum griffen sich ihre Waffen und eilten zum Ausgang.

»Komm«, sagte Corbec, während er aufstand und das Magazin seines Gewehrs überprüfte. »Komm hoch, Milo. Es ist noch lange nicht vorbei.«

 

Der erste Blutpakt-Krieger, der es in das zerstörte Hab schaffte, war ein massiges Scheusal, noch größer als der gefallene, betrauerte Soldat Bragg. Er kam durch ein Loch in der Ostwand, das Soldat Loff bis vor einem Moment verteidigt hatte.

Der Chaos-Krieger trug eine schwere rostrote Uniform mit stahlverkleideten Stiefeln und eisernen Rüstungsteilen, die um Oberschenkel, Schultern und Bauch geschnallt waren. Sein Gesicht unter dem roten Helm steckte hinter einer schwarzen Metallmaske, einer eisernen Visage in Form eines hakennasigen fauchenden Raubtiergesichts. Die Hände, wulstig vom Narbengewebe des abscheulichen Pakt-Rituals, umklammerten eine Laserpistole und eine gefährlich gekrümmte Hippe.

Loff lag tot auf dem Gesicht in dem Loch, wo ihn ein Hieb der Hippe gefällt hatte. Der Blutpakt-Krieger heulte einen obszönen Kriegsruf und stürmte schießend in das Hab. Andere folgten ihm.

Gaunt ging frontal auf ihn los. Seine herumwirbelnde aufgeladene Klinge, das Energieschwert Heironymo Sondars, leuchtete wie ein Eissplitter, als sie zwei Laserstrahlen des Chaos-Kriegers zur geschwärzten Decke ablenkte. Dann zuckte die Klinge seitlich vor, und die mörderische Hippe – und mehrere vernarbte Finger mit ihr – flogen in einer Wolke aus spritzendem Blut in die Luft. Von seinem Angriffsschwung vorwärts gerissen, rammte Gaunt die stumpfe Mündung seiner Boltpistole in die heulende Gesichtsmaske und schoss. Das Scheusal wurde mit zerschossenem Kopf zurückgeschleudert. Gaunt feuerte über den zusammenbrechenden Leichnam hinweg in die Masse der Feindsoldaten, die ihrem Kameraden durch das Loch folgten.

Beltayn und Neith waren plötzlich neben ihm, schossen aus nächster Nähe mit ihren Lasergewehren und stießen mit ihren tanithischen Kampfmessern zu, die sie als Bajonett aufgepflanzt hatten. »Ehrliches Silber! Ehrliches Silber!«, brüllte Beltayn.

Es war nicht die einzige Bresche. Das Hab hallte vom Lärm verschiedener Handgemenge wider, als Sturmtrupps des Blutpakts durch Fensteröffnungen und Granatlöcher vorstießen und den ersten Trupp in die Ruinen zurückdrängten. Es war ein blutiges Gemetzel, das bösartige rotglühende Herz des reinen Krieges. Die raucherfüllte Kammer, düster und vom Feuerschein erleuchtet wie die Dämonenhölle, war ein Chaos aus Geschrei, Hieben, Schüssen und um sich schlagenden Gestalten.

Das Magazin von Gaunts Boltpistole war leer. In seinen Gürtelbeuteln steckten Reservemagazine, aber in dem Tohuwabohu hatte er keine Möglichkeit, das Magazin zu wechseln. Er ließ die Pistole einfach fallen, zückte sein tanithisches Kampfmesser und stieß beide Klingen in den nächsten Feindsoldaten. Blut spritzte in solcher Menge auf seine Jacke und seinen Mantel, dass die Kleidungsstücke schlagartig schwerer wurden. Ihm ging auf, dass er dem angreifenden Feind seine Wut entgegenschrie, ohne sie in Worten zu artikulieren.

Sie stanken. Sie brachten ihren Schlachthausgestank mit: nach fauligem Atem, saurem Schweiß, getrocknetem Blut und den giftigen Ölen und Farben, mit denen sie ihre Leiber salbten.

Sondars Schwert spaltete ein schwarzeisernes Visier. Blut verdampfte zischend auf der aufgeladenen Klinge. Gaunts Kampfmesser stieß in eine Kehle. Etwas schlug ihm die Mütze vom Kopf. Ein Blutpakt-Soldat prallte seitwärts gegen ihn und ließ ihn taumeln, aber sein neuer Gegner war bereits tot. Dann streifte ihn ein Laserstrahl oben an der linken Schulter und warf ihn auf die Knie. Er stieß das Energieschwert durch die gepanzerten Oberschenkel vor sich und wurde zu Boden geworfen, als der beinlose Rumpf nach vorn auf ihn fiel.

Beltayn hatte sein Lasergewehr verloren. Er hob eine auf den Boden gefallene Hippe auf und rammte sie beidhändig in das nächste feindliche Brustbein, dann sprang er vor, packte Gaunt bei den Schultern und versuchte ihn hochzuzerren. Vanette und Starck stürmten heran, um ihn zu unterstützen, und gaben dabei Dauerfeuer auf das Gemenge des Blutpakts ringsumher.

»Zurück! Wir müssen zurück!«, brüllte Beltayn Gaunt ins Gesicht. Der Kommissar-Oberst schien ihn gar nicht zu erkennen. Er war tropfnass von Blut. »Wir müssen zurück!«, wiederholte Beltayn, dessen Kehle vom Rauch heiser war.

Gaunt schob ihn aus dem Weg und schlug noch einen Blutpakt-Soldaten nieder, der sie anspringen wollte. Das Energieschwert schnitt ihn entzwei und sprengte Steinsplitter aus der Säule neben ihm.

Eine Explosion holte sie alle von den Beinen. Mauerwerktrümmer regneten vom Dach herunter, und die Endmauer des Habs fiel wie ein Stapel Kinderbausteine in sich zusammen. Kalte Luft wehte herein, nach Fyzelen stinkend, und verwirbelte den dichten Rauch rings um sie zu seltsamen Formen und Schlieren.

Mit dem Schwert in einer blutverschmierten Hand griff Gaunt Beltayn am Arm und zerrte ihn zum eingestürzten Teil der Mauer. Vanette und Starck folgten ihnen rückwärts gehend, während sie die letzten Schüsse aus ihren Magazinen aus der Hüfte abfeuerten. Andere Mitglieder des Ersten waren nicht mehr zu sehen, nur noch dunkelrote Gestalten, die ihnen im dichten Rauch auf den Fersen blieben.

Die vier Männer fielen förmlich den Geröllberg hinunter ins Freie. Laserschüsse zischten ihnen aus dem Hab hinterher.

Sie befanden sich auf dem ausgedehnten Hazgulplatz. Die gesamte Gegend stand in Flammen. Aus den leeren Fassaden brennender Häuser loderten Flammen und Funken. Drei Panzer – ein leichter imperialer und zwei feindliche – brannten, wo sie abgeschossen worden waren. Leichen lagen auf dem Boden, halb von Ascheflocken bedeckt, die wie Schnee aus dem wallenden Rauch fielen. Die Hitze war so intensiv wie zu Mittag im Hochsommer auf Caligula.

Es ließ sich unmöglich sagen, wo die anderen waren. Es war, als seien sie mitten in der Apokalypse aufgetaucht.

Gaunt war wieder so weit bei sich, dass seine Hände zu zittern anfingen. Sein Herz hämmerte wie ein Autolader. Infolge einer Wunde hinkend, von der er nicht wusste, wann sie ihm zugefügt worden war, scheuchte er die anderen drei über die zwanzig Meter freien Platz in die nächste Deckung. Es handelte sich um einen ausgebrannten Truppentransporter des RCB. Sie kauerten sich dahinter und betrachteten den Albtraum ringsherum.

»Eins! Hier spricht eins!«, rief Gaunt, bis ihm aufging, dass er deshalb keine Antwort bekam, weil sein Ohrhörer nicht mehr im Ohr steckte. Das abgerissene Verbindungskabel hing noch an der Kragenklammer.

Er betrachtete die anderen drei. Alle waren mit Schmutz und Blut besudelt und hatten eine Vielzahl kleinerer Wunden davongetragen. Vanettes Jacke war zerfetzt, und aus einer Wunde am Ellbogen lief Blut seinen rechten Unterarm herunter. Starck hatte den Kopf in die Hände gelegt und zitterte vor nervöser Energie und Adrenalinüberschuss. Beide hatten ihr Lasergewehr noch. Beltayns verschrammte, zerschnittene Hände waren leer. Er hatte sich an das Wrack des Truppentransporters gelehnt und starrte mit dem leeren Blick eines Mannes auf die Feuerstürme, der seine Grenzen erreicht und überschritten hatte.

»Kom?«, sagte Gaunt und schüttelte ihn.

»Herr Kommissar?«

»Kom?«

Beltayn schüttelte den Kopf. Ein Laserstrahl hatte dem Kom-Gerät auf seinem Rücken während des Handgemenges im Hab den Garaus gemacht.

Handgemenge, dachte Beltayn. Wie unzureichend dieses alberne, verdammte Wort beschrieb, woraus sie soeben entkommen waren.

»Was ist mit Ihrem Helmkom? Beltayn? Beltayn!«

Der Signalmann schreckte hoch. Er fummelte an seinem Ohr herum und sprach in sein Helmkom.

Gaunt hörte das Scheppern, bevor Starck ihn darauf aufmerksam machte. Zweihundert Meter nördlich von ihnen, auf der anderen Seite des zerstörten Platzes, setzte ein leichter Imperiumspanzer mit Höchstgeschwindigkeit zurück und fegte dabei Trümmer und Fahrzeugwracks aus dem Weg. Eine Panzerabwehrgranate traf den Straßenbelag neben dem Panzer und überschüttete ihn mit Dreck und Gesteinssplittern, und dann ließ die Nächste den Geschützturm bersten. Der Panzer schlingerte hin und her, während eine dichte, ölige Qualmwolke von ihm aufstieg, und blieb stehen. Gaunt sah, wie der Fahrer aus dem Panzer sprang. Der Mann rannte los und ging dann zu Boden, als er von Handwaffen niedergemäht wurde.

Zwei Kampfpanzer des Blutpakts und ein Schleichpanzer stießen scheppernd und klirrend von links auf den Platz vor. Die Panzer erbebten, als sie schossen. Granaten jaulten über Gaunt und die anderen drei Geister hinweg und schlugen in die Gebäude auf der Südseite des Platzes ein. Lose Formationen von Geschützmannschaften des Blutpakts rückten mit den Panzern vor. Während Gaunt und sein Trupp in der Hölle des Häuserkampfes gefangen gewesen waren, war die Schlacht draußen verloren worden. Der Feind hatte den imperialen Widerstand gebrochen und die Panzer vernichtet und rückte jetzt über Prinzipal I weiter vor.

Laserstrahlen schlugen in das Wrack des Truppentransporters ein. Sie kamen von der Seite, aus der Hab-Ruine. Die Blutpakt-Einheit, die den ersten Trupp aus seiner Stellung vertrieben – und sehr wahrscheinlich beinahe vollständig niedergemetzelt – hatte, strömte jetzt auf dem Weg nach draußen, den auch Gaunt und seine Männer genommen hatten. Sie schossen über den freien Platz auf die in Deckung kauernden Imperialen.

Die Vier beeilten sich, hinter dem Heck des Transporters Deckung zu suchen, doch selbst da war der Schutz vor Kreuzfeuer ziemlich gering. Rechts von ihnen rollte der Hauptvorstoß mit den Panzern, links von ihnen hatte der Flankenvorstoß der Infanterie begonnen.

Vanette und Starck erwiderten das Feuer mit ihren Lasergewehren und konzentrierten sich dabei auf die Feindeinheit, die aus dem Hab vorrückte. Gaunt wünschte, ihm wäre noch eine andere Waffe außer seinem Schwert geblieben. Beltayn gab seine Versuche mit dem Helmkom auf, zückte seine Dienstpistole und gab Schüsse um das Ende des Transporters ab. Das Wrack erbebte unter den gegnerischen Treffern, die das Metall verbeulten und den zum Teil verkohlten Lack abplatzen ließen.

»Starck! Vanette! Geben Sie mir eine Pistole!«

Starck hatte seine verloren – tatsächlich das gesamte Halfter –, aber Vanette zückte seine Pistole und ließ sie mit einem kräftigen Stoß über den Beton zu Gaunt gleiten. Gaunt schob sein Schwert in die Scheide, kauerte sich hinter das platte Hinterrad und gab Schüsse auf den Hauptvorstoß ab. Die Anzeige im Kolben der Waffe verriet ihm, dass ihm ungefähr noch dreißig Schüsse blieben, bis das Magazin erschöpft sein würde.

Dreißig Schüsse. Das war die Bemessung des Lebens, das ihm noch blieb.

»Munition?«, überschrie er das Knistern des Feindfeuers.

»Noch ein Magazin!«, erwiderte Vanette.

»Ein Halbes!«, meldete Starck.

»Noch zwei Magazine!«, stammelte Beltayn.

»Machen Sie was draus«, sagte Gaunt.

Der Beschuss, unter dem sie lagen, wurde schwerer. Beide Infanterie-Abteilungen nahmen den Truppentransporter unter Feuer, und der Schleichpanzer hatte ebenfalls das Feuer auf sie eröffnet. Das Wrack klapperte und bebte und bewegte sich mehr als einmal unter den Einschlägen. Karosseriefetzen flogen durch die Luft. Beltayn schrie auf, als ein Splitter seinen Arm traf. Vanettes Wange wurde von Splittern versengt, die nach einem Rumpftreffer abplatzten. Gaunt wusste, dass ihnen jeden Moment eine Panzergranate oder Rakete den Garaus machen konnte.

Noch zehn Schüsse übrig.

»Sabbatmärtyrer«, murmelte Gaunt, »im Namen des heiligen Imperators von Terra, Erlöser des Imperiums der Menschheit, lege ich meine Seele und die Seelen dieser drei tapferen Soldaten in deine Hände, auf dass …«

Feuer wälzte sich von Süden auf den Platz, Flammenkegel, weißglühend und hungrig, strömten wie Wasser aus Hochdruckschläuchen, hüllten die Truppen des Erzfeindes ein, der aus dem Hab kam, und verwandelten jene, die nicht sofort flohen, in ruckende, stolpernde Fackeln.

»Da ist etwas …«, keuchte Beltayn. »Da ist etwas …«

Nicht faul. Ganz und gar nicht.

Vier Chimären mit den Insignien der Leibkompanie des Marschalls stürmten auf den Platz und rasten dabei mit ihren Räumschaufeln durch brennende Gebäude. Sie waren schnell unterwegs, und ihr Rumpf schaukelte auf den Ketten hin und her, als sie aus den Trümmern beschleunigten. In ihren Geschütztürmen bemannten Soldaten die Autokanonen und jagten Leuchtspurgeschosse in die Luft. Hinter den schnellen, gepanzerten Truppentransportern tauchten ungeschlachte Panzer auf. Panzer des Regiments Civitas Beati, leichte Panzer der Planetaren Streitkräfte und zwei Bezwinger der Leibkompanie. Sie fingen an zu schießen, sobald sie die feindliche Vorhut im Visier hatten. Der Angriff der Fahrzeuge wurde von Truppen begleitet, von denen viele Kompanie-Banner, Flaggen und Adler-Standarten an langen Stangen trugen. An der Spitze der Bodentruppen, mit einer Standarte in der geballten Faust, konnte Gaunt Marschall Biagi ausmachen. Er schritt an der Spitze eines Dutzends von Offizieren des Regiments Civitas Beati vorwärts. Sie bearbeiteten das Gelände vor sich mit ihren Flammenwerfern.

Die vier Geister krochen unter das Wrack, während Granaten und massiver Autokanonenbeschuss in beide Richtungen über sie hinwegfegten. Der Lärm und die Erschütterungen waren körperlich schmerzhaft. Von seinem Platz konnte Gaunt sehen, wie Biagi seine Bodentruppen vorwärts beorderte. Jemand, wahrscheinlich Lugo persönlich, hatte alle Reserven für diesen Gegenstoß mobilisiert. Der verdammte Narr! Wenn das Unternehmen scheiterte, würde nichts, absolut gar nichts mehr zur Verteidigung der inneren Makropole übrig sein.

Gaunt wusste, dass Lugo nicht der begabteste Taktiker aller Zeiten war, der die Offizierskadettenschule je verlassen hatte, aber dies war selbst nach seinen bedrückenden Maßstäben ein Akt des Wahnsinns. In dieser Nacht waren sie bereits durch den schieren Umfang der Voraustruppe des Feindes überrascht worden, die der Erzfeind auf Herodor hatte landen können. Wer konnte sagen, ob nicht eine zweite Streitmacht von ähnlicher Größe gerade vor der südlichen agroponischen Zone oder in der Obsidae im Osten stand und zum Angriff überging? Was würde Lugo dann tun, wenn seine gesamte militärische Kraft hier im Einsatz war?

Es war Wahnsinn. Es war …

… es war Wahnsinn, aber nicht von der Art, die Gaunt vermutete.

Er blinzelte.

Etwas Seltsames geschah. Jedes Geräusch wurde leiser, alles in seinem Blickfeld begann zu flimmern. Glasscherben auf dem Boden und unter seinen blutigen Händen funkelten wie Diamanten. Das zerkratzte Metall der Heckklappe über seinem Kopf sah wie Perlmutt aus. Panzergranaten rauschten in perfekter Klarheit über ihn hinweg und ließen dabei Kondensstreifen hinter sich zurück, deren Rauch sich nach Art einer Doppelhelix wand und kräuselte.

Alles schien sich zu verlangsamen.

Feth!

Einen Moment glaubte Ibram Gaunt, er sei erschossen worden. Er verspürte keinen Schmerz, keinen Einschlag, aber er hatte invalide Veteranen beschreiben hören, wie einem wirklich schlimme Wunden zugefügt wurden, ohne dass man etwas davon merkte, und sich die Welt dann in ein Zeitlupen-Wunderland verwandelte, da die versagenden Sinne die simple, profunde Pracht in allem registrierten.

Er registrierte ein Licht. Ein goldenes Licht. Ein Salamander der Leibkompanie, untersetzt und massiv auf seinen Ketten, rollte in sein Blickfeld und hielt ein paar Meter vor der Stelle an, wo er unter dem Transporterwrack lag. Eine Gestalt stand aufrecht in der offenen Kabine.

Sie war wunderschön.

Sie trug eine kunstvoll gearbeitete goldene Schlachtrüstung, die so perfekt saß, dass sie ihr ganz eindeutig von meisterhaften Metallurgen auf den Leib geschmiedet worden sein musste. Stücke aus poliertem Chelonpanzer waren in das Mieder und die breiten Schulterschützer eingearbeitet. Imperiumsadler bildeten die Armkacheln an den Ellbogen und die Kniebuckel, und dasselbe Symbol war in sich wiederholenden Bändern auf die Beintaschen und Armschienen geritzt. Die linke Hand war durch einen vergoldeten Handschuh geschützt, dessen Fingerspitzen in silbernen Adlerkrallen ausliefen. Die rechte Hand war nackt. Unter der strahlend goldenen Plattenrüstung trug sie ein engmaschiges schwarzes Kettenhemd, dessen Glieder die Form einer Islumbineblüte hatten. Ein weißer Rock, lang, fließend und mit Reinheitssiegeln und Gebetsbändern befestigt, wehte um ihre Hüften. Die schwere goldene Halsberge reichte hoch bis zum Kinn, aber ihr Kopf war unbedeckt. Sie hatte sich die Haare kurz geschnitten, sie tatsächlich grob abgeschnitten, sodass sie einen glänzenden schwarzen Schopf auf ihrem hellhäutigen Kopf bildeten. Ihre Augen waren grün, so grün wie die Seide eines Infardi und die Regenwälder auf Hagia.

Die Beati schaute zu Gaunt herab. Ein Lichtschein umgab sie, so strahlend hell, dass sie beinahe durchsichtig wirkte. Neun Cyberschädel-Drohnen umschwebten sie in dem glänzenden Schein und bildeten mit leuchtenden Augen und scharfen Waffen einen Kreis hinter ihrem Kopf. Sie war schrecklich anzuschauen.

Sie lächelte.

»Darauf habe ich gewartet, Ibram. Sie nicht auch?«

»Ja«, war alles, was er sagen konnte. Ihm ging auf, dass er weinte, aber es war ihm egal.

Sie breitete die Arme aus. Ein grüner Umhang entfaltete sich auf ihrem Rücken und wurde zu Flügeln. Eine perfekte Adlergestalt breitete sich rings um sie aus, fünf Meter auf jeder Seite, nicht Seide, sondern flimmerndes grünes Licht. Hinter ihrem Kopf klickten und zischten umringt von den Schädeldrohnen die beiden Köpfe des imperialen Doppeladlers.

Gaunt kam hoch. Er war so auf sie fixiert, dass er sich den Kopf an der hinteren Stoßstange des Transporters stieß, aber sein Blick wich keinen Moment von der Gestalt vor ihm.

Er zog sein Schwert und hielt es ihr mit dem Griff voran hin.

»Das werden Sie selbst brauchen, Ibram«, wies sie ihn ruhig zurecht und zog ihre eigene Klinge. Sie war schlank, silbern und gut über einen Meter lang. Girlanden aus Islumbinen wanden sich um das Heft, und juwelenbesetzte Anhänger baumelten am Knauf. Sie aktivierte die Klinge, die summend zum Leben erwachte.

»Lass uns den Erzfeind der Menschheit lehren«, sagte sie.

»Welche Lektion lehren wir?«, fragte Gaunt.

»Der Imperator beschützt«, sagte sie.

Sie hob das Schwert und richtete es auf den Feind. Der unsichtbare Fahrer ließ den Salamander abrupt anrucken, doch sie rührte sich nicht einmal. Auf beiden Seiten stürmten imperiale Krieger dem zurückweichenden Feind entgegen. Flammenwerfer zischten, Kanonen dröhnten, Lasergewehre feuerten und schwere Panzergeschütze donnerten. Die Imperiumsbanner flatterten.

Mit dem Schwert in der Hand lief Gaunt ihr hinterher.